Das polnische Haus. Radosław Sikorski
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Später standen wir jubelnd auf dem Platz vor dem Sitz des Erzbischofs und warteten darauf, daß der Papst sich der Menge zeigen würde. Es war ein Treffen mit der Jugend vorgesehen; Schüler- und Studentengruppen spielten Gitarre und sangen Lieder. Dann erschienen zwei Gestalten auf dem Balkon: der Papst und, im purpurroten Gewand eines Kardinals, Primas Wyszyński, der Mann, dem es gelungen war, sogar während der schlimmen Verfolgungen der fünfziger Jahre die Unabhängigkeit der Kirche zu bewahren. Der Papst machte ein fröhliches Gesicht; es war ihm anzusehen, daß er am liebsten zu uns heruntergekommen wäre. Wyszyński war dagegen einer von der alten Schule. Wie ein römischer Kaiser grüßte er mit erhobener Hand die ausgelassene Menge, die augenblicklich verstummte. Was Wyszyński sagte, weiß ich nicht mehr, aber die unerschütterliche Autorität, die er ausstrahlte, hinterließ bei mir einen bleibenden Eindruck.
Als wir nach Hause kamen und von den riesigen Menschenmengen beim Papstbesuch erzählten, glaubten unsere Eltern, daß wir maßlos übertrieben. Im Fernsehen waren Bilder gezeigt worden, nach denen nur Nonnen und Rentner der Messe in Gniezno beigewohnt hatten. Diesmal gingen die Lügen einfach zu weit. Für Millionen Menschen, die sich sonst kaum Gedanken über die Manipulation der Medien machten, war der Schwindel jetzt unübersehbar. An diesem Tag mit seiner friedlichen Versammlung fühlten Millionen Polen, daß sie zusammen stark waren – ein Gefühl, das sicherlich zur Gründung von Solidarność im Jahr darauf beitrug.
* Den Hinweis auf die Geschichte von Matolek und auf die Eingriffe der Zensur verdanke ich einem Artikel von Violetta Bukowska aus der katholischen Zeitung Słowo (August 1994).
** Dies war nicht der einzige Aspekt des Zweiten Weltkriegs, der im kommunistischen Geschichtsunterricht der Zensur zum Opfer fiel. Im Rückblick ist es kaum zu glauben, aber in der Schule haben wir nichts darüber erfahren, daß Juden im besetzten Polen gezielt verfolgt und in den nationalsozialistischen Lagern ermordet wurden. Unsere Lehrer durften uns nur erzählen, daß sechs Millionen »polnische Bürger« im Krieg umgekommen sind. Daß die meisten der Opfer Juden waren, erfuhr ich erst aus Büchern von antikommunistischen Emigranten und aus Samisdat-Schriften. Allerdings sind wir nicht die einzigen, die schlecht informiert wurden. In Polen bin ich meines Wissens nach nie einem Juden begegnet – die jüdischen Gemeinden waren in Westpolen nie besonders umfangreich gewesen, auch nicht vor dem Holocaust. Als ich 1983 in Oxford zum ersten Mal einen Juden traf, war der erste Satz, den er mir entgegenschleuderte: »Ihr Polen seid doch alle Antisemiten!«
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