Das polnische Haus. Radosław Sikorski

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Das polnische Haus - Radosław Sikorski eva digital

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und die Landkarten hervor, um jeden einzelnen Tag der Sommerferien aufs genaueste zu planen. Zu jener Zeit galt jedes beliebige Land der nichtkommunistischen Welt für uns schon als »der Westen«. Wir entschieden uns in der Regel für die Türkei oder Griechenland. Diese Reiseziele waren nicht ohne Hintergedanken gewählt, denn wir konnten sie leicht mit dem Auto erreichen, indem wir durch die Sowjetunion, Rumänien und Bulgarien fuhren und billiges sozialistisches Benzin tankten. Noch wichtiger war jedoch, daß wir in beiden Ländern nicht nur mit unseren Devisen auskommen, sondern auch ein bißchen Handel treiben konnten, um am Ende mit einem Teil der kostbaren Dollars zurückzukehren.

      Vor der Abreise bemühte sich die ganze Familie, ausstehende Gegenleistungen für frühere Gefälligkeiten einzutreiben und so geeignete Handelsware zu sammeln. Meinen Eltern war das peinlich, aber in mir erwachte der wahre Handelsinstinkt. Wenn der Urlaub nahte, häuften sich in unserer Küche die verschiedensten Güter an. Es hatte sich herumgesprochen, daß in der Türkei rege Nachfrage nach polnischen Elektrogeräten wie Mixern, Bügeleisen und Staubsaugern bestand. Außerdem kaufte ich einige Sachen aus geschliffenem Kristall: Aschenbecher, Vasen, Zuckerdosen. Dem Zoll machte man weis, daß die ersteren zu unserer Campingausrüstung gehörten, die letzteren wurden als Geschenke für alte türkische Freunde deklariert. (Wie bei so vielen Dingen wurden unter dem Sozialismus die normalen Zollbestimmungen in ihr Gegenteil verkehrt: Die Zöllner versuchten zu verhindern, daß etwas aus dem Land geschmuggelt wurde.) Noch gewinnbringender waren Güter, die man in der Sowjetunion absetzen konnte: Kaugummi, Nagellack, Parfüm, Jeans, Bettwäsche und, aus unerfindlichen Gründen, Perücken. Ebenso wie wir waren die Sowjets ganz erpicht auf alles, was nach Luxus roch, nur stand Giereks Polen aus ihrer Sicht schon mit einem Bein im Paradies. Andererseits lagerten in den sowjetischen Geschäften Bedarfsartikel, die in der Türkei gefragt waren oder auch bei uns Polen fehlten: Kameras, Autozubehör und vor allem ganz schlichte Heimwerkerutensilien. Man konnte zudem versuchen, Rubel aus der Sowjetunion zu schmuggeln (ein heimtückisches Verbrechen, das mit der Beschlagnahmung der involvierten Summe sowie des benutzten Vehikels – des Familienwagens – geahndet wurde), um sie später gegen bulgarische Lewa zu tauschen, die bei den Schaffellhändlern in der Türkei hoch im Kurs standen. Um unsere Reisekosten möglichst gering zu halten, nahmen wir auch kiloweise Wurst, Packungen mit passierten Tomaten, Suppendosen und Gemüse mit; dazu die Grundausstattung: Zelte, Matratzen, Gaskocher und Ersatzteile für den Wagen. Mein Vater hatte meist schon an mehreren Wochenenden geprobt, um schließlich alles im Kofferraum, auf dem Dach und auf dem Rücksitz unseres Polski Fiat 125 verstauen zu können. Ich durfte es mir jedesmal zwischen den Zeltstangen und Reservestoßdämpfern auf dem Rücksitz gemütlich machen.

      Der Geselligkeit halber, aber auch wegen der gegenseitigen Hilfe bei den unvermeidlichen Pannen, reisten wir immer zusammen mit zwei oder drei anderen Familien, deren Autos ebenfalls durch eine schwere Last tief in die Federung gedrückt wurden. Unangenehm wurde es gleich an der polnisch-sowjetischen Grenze bei Medyka. Nach einer kursorischen Kontrolle durch die polnischen Zöllner – die höchstens mal eine Kristallschale oder einen Staubsauger für den Eigengebrauch konfiszierten – landeten die Wagen in einem von Wachtürmen und Stacheldraht umgrenzten Niemandsland. Es war nicht ganz die »vereinigende Grenze«, über die ich in Schulbüchern und Zeitungen so viel gelesen hatte. Die Wartezeit betrug jedesmal mehrere Stunden, wenn nicht gar Tage. Häufig wurde der Grenzübergang ohne Vorwarnung geschlossen; dann ging gar nichts mehr, außer Fluchen und Abwarten. Es gab keine Läden, keine Cafés, keine Toiletten – nur eine Einöde mit hier und da ein paar Gräben und Büschen. Wir schliefen im Wagen und ließen wegen der Heizung den Motor laufen.

      Endlich auf der sowjetischen Seite angekommen, begann der Zirkus erst recht. Offiziell waren wir zwar internationalistische Brüder und Schwestern, doch der sowjetische Zoll und die Einwanderungsbehörde behandelten uns mit größtem Mißtrauen. Das Verfahren war immer das gleiche. Zuerst wurden uns die Pässe abgenommen, die dann für mehrere Stunden im Büro der Einwanderungsbehörde verschwanden. Anschließend mußte jedes Fahrzeug auf einer Hebebühne untersucht werden; jemand klopfte dazu mit einem Hammer den Wagenboden ab. Ein anderer Grenzsoldat prüfte mit einem langen Stab den Benzintank. Wir mußten unser gesamtes Gepäck ausladen, damit die Zöllner feststellen konnten, ob wir im Wageninnern nicht einen Spion versteckt hielten. Oft verlangten sie irgendwelche kleinen Geschenke: die gelbgetönte Sonnenbrille meines Vaters oder eine Packung Rasierklingen. Wenn man es sich mit ihnen verscherzte, folgte unausweichlich eine Sonderkontrolle, bei der das Auto nahezu komplett auseinandergenommen wurde – zusammenbauen mußte man es hinterher selbst. Also hatten wir uns daran gewöhnt, einige der mitgeführten Handelsartikel einladend auf dem Armaturenbrett liegenzulassen. Am Ende der Kontrollen waren sie immer verschwunden.

      Manchmal gab es heikle Situationen. Als wir eines Tages zur Reise aufbrachen, klebte hinter der Windschutzscheibe ein Farbporträt vom neuen Papst – aus patriotischem Wagemut hatte mein Vater es dort hingesteckt.

      »Wer soll das sein?« schnauzte ein Zöllner und deutete auf die in Weiß gekleidete Figur, die segnend die Hand hob.

      »Das?« Meinem Vater fiel jetzt plötzlich ein, daß die Zollbestimmungen die Einfuhr von religiösen Objekten in die Sowjetunion ausdrücklich untersagten. »Das ist einer unserer Generäle«, erwiderte er mit einem matten Lächeln.

      »Ein General?« Der Grenzer starrte meinen Vater durchdringend an.

      »Eigentlich ein Admiral. Er ist Kommandeur unserer Ostseeflotte«, sagte mein Vater, ohne eine Miene zu verziehen.

      »Verstehe. Tolle Uniform!«

      Die Strecke durch die Sowjetunion war von hohen Bäumen gesäumt – wahrscheinlich als Schutz gegen Schneestürme, obwohl alle munkelten, daß die Sowjets den Blick der Durchreisenden auf ihre brachliegenden Felder verstellen wollten. Wir durften nur der vorgeschriebenen Route folgen, die an jeder größeren Kreuzung von düsteren Wachtürmen aus Beton gesichert war. Wir bemerkten, daß die Wachmannschaften die Nummernschilder aller ausländischen Wagen registrierten. Die Straße zu verlassen, war nicht ratsam: Bald würde man von einer Streife gestoppt und in ärgerliche Dispute verwickelt werden.

      Die Strecke führte uns durch die Stadt Lwów (Lemberg), die einst der östlichste Vorposten Österreich-Ungarns gewesen war und davor (bis 1772) sowie zwischen den Weltkriegen zu Polen gehört hatte. Die Geschichtslehrer in unserer Schule versuchten, die Annexion Lwóws durch die Sowjetunion im Jahre 1939 zu rechtfertigen: Der Osten Polens sei von jeher ein russischer Landstrich (von der Ukraine war erst gar nicht die Rede), in den jetzt die Sowjets nur einrückten, um die Bevölkerung vor den Deutschen zu schützen. Doch wie immer bei solchen Grenzstreitigkeiten in ethnisch vielfältigen Gegenden war auch dieser Fall äußerst kompliziert. Während die Landbevölkerung mehrheitlich aus Ukrainern bestand, wurde in Lwów selbst seit Jahrhunderten hauptsächlich Polnisch gesprochen. Jedes polnische Kind wußte, daß unser glückloser König Kasimir in der Kathedrale von Lwów geschworen hatte, das Schicksal der Bauern zu verbessern, nachdem sie ihm wieder zum Thron verholfen und die 1655 eingefallenen Schweden vertrieben hatten. Und auch jetzt, nach mehreren Jahrzehnten sowjetischer Verwaltung, machte die Stadt kaum einen russischen Eindruck. Die beiden Löwenstatuen, die in polnischen Liedern besungen werden, standen immer noch vor dem klassizistischen Rathaus. Der Rathausplatz stammte aus der Renaissance, ein angrenzendes Haus gehörte einst Johann III., der 1683 Wien von den Türken befreite. Der Markuslöwe bewachte den Eingang eines weiteren Hauses, in dem wahrscheinlich das venezianische Konsulat einmal untergebracht gewesen war, und zeugte von Lwóws herausragender Bedeutung und strategischer Position an einer der wichtigen Handelsstraßen nach Asien. Auf den Stufen des Denkmals zu Ehren des Dichters Adam Mickiewicz legten wir Blumen nieder. Damals fand ich es nicht weiter komisch, daß hier für einen Mann, der im heutigen Weißrußland geboren wurde und der Encyclopedia Judaica zufolge ein Jude war, der in Paris in polnischer Sprache sein bekanntestes Gedicht verfaßte, dessen Anfangszeile lautet: »Litauen, du meine Heimat, du bist wie die Gesundheit«, daß hier für diesen Mann ein Denkmal errichtet wurde, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die heute ukrainische Stadt zu Österreich-Ungarn gehörte.

      Wir

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