Das polnische Haus. Radosław Sikorski

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Das polnische Haus - Radosław Sikorski eva digital

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Monat später, als die Straßenarbeiten vor dem Gebäude noch nicht einmal abgeschlossen waren, feierte die Schule schon den fünfzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution. Unter einem roten Stern, einem Porträt von Lenin und einer Zeichnung von zwei Gewehren hatte jemand einen Text eingetragen, der so unbeholfen ist, daß man dem Verfasser wohl Absicht unterstellen muß.

      Vor fünfzig Jahren triumphierte die Große Oktoberrevolution. Ihr Sieg brachte vielen Ländern die Freiheit. Leider wollte die reaktionäre Regierung Polens nicht zulassen, daß auch unser Vaterland befreit würde. Erst nach den schlimmen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs wurde unser Vaterland von der Sowjetunion aus der Niederlage und Armut gerettet. Seit dreiundzwanzig Jahren sind wir frei; wir atmen die Luft der Freiheit, und dies verdanken wir unseren Freunden aus dem Osten.

      Wie die Kirche hatte auch die Kommunistische Partei ihren offiziellen Kalender mit Höhepunkten wie dem Jahrestag der Revolution, dem Tag der Polnischen Volksarmee, dem 1. Mai, dem Tag des Sieges, dem Internationalen Frauentag, dem Tag der Miliz und der Staatssicherheit usw. Zudem wurden in der Schule – angeblich auf freiwilliger Basis – besondere Festveranstaltungen organisiert. So feierten wir zum Beispiel das vierzigjährige Jubiläum der Gesellschaft für Polnisch-Sowjetische Freundschaft (die Chronik verzeichnet unter den Anwesenden keinen Geringeren als den Direktor vom Sowjetischen Haus der Kultur in Gdańsk), das Lenin-Jahr, fünfzig Jahre Sowjetunion, vierzig Jahre Internationale Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg und, aus welchem Grund auch immer, den zweiundzwanzigsten Jahrestag der Gründung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei. Jedes dieser Ereignisse gipfelte in einer großen Versammlung. Wir organisierten auch ein Festival für russische Lieder, und unsere Pioniere erhielten ein Fähnchen vom Veteranenverband. Wir sandten Grüße an den Genossen Wojciech Jaruzelski, der damals erst ein bescheidener Verteidigungsminister war, um ihm zu seiner Beförderung zum Drei-Sterne-General zu gratulieren. »Der 25. Kongreß der KPdSU hat auf unsere Schule einen großen Eindruck gemacht«, vermeldet die Chronik. »Jede Klasse hat Schaukästen geschmückt, und die Selbstverwaltung der Schule hat der sowjetischen Botschaft ein Telegramm geschickt. Junge Pioniere haben vor dem Denkmal für die heroische Sowjetarmee Blumen niedergelegt und eine Ehrenwache gehalten.« Für eine andere Versammlung fertigten wir ein großes Transparent an, das an die Wand der Sporthalle gehängt wurde: »Das Parteiprogramm ist unser Programm.«

      Einmal schickten wir den Kindern in Vietnam 1379 Schulhefte. Der Begleitbrief lautete:

      Liebe vietnamesische Brüder,

       wir, die Kinder von Grundschule Nr. 20 in Bydgoszcz ... wünschen Euch den Sieg über die amerikanischen Aggressoren, die Euer Land und Euer Volk zerstören. Euer Kampf ist unser Kampf, und deshalb wird er zum Sieg führen ... Wir möchten, daß die Sonne der Freiheit über Eurem Land aufgeht und Eure Gesichter strahlen vor Glück. Wir wünschen allen Kindern der Erde ein so friedliches und glückliches Leben, wie wir es in Polen haben.

      Aus einem anderen Anlaß verabschiedeten wir eine spontane Resolution.

      Wir, die Kinder von Grundschule Nr. 20 in Bydgoszcz, erheben gemeinsam unsere Stimmen gegen die Neutronenbombe. Wir wollen lernen und arbeiten und unserem Land dienen. Wir wissen, daß wir ohne Frieden nichts erreichen können. Aus diesem Grund widersetzen wir uns jenen Kräften, die die Sicherheit und Zusammenarbeit zwischen den Nationen der Welt sabotieren wollen ...

      Im Alter von zehn Jahren, als ich – laut Schulchronik – diese Resolution mit Beifall beklatscht haben soll, hatte ich überhaupt keine Ahnung, was eine Neutronenbombe ist.

      Die weitaus größte Veranstaltung – und die weitaus größte Lüge – meiner Schulzeit fand jedoch 1974 statt, als wir das dreißigjährige Jubiläum der Miliz und der Staatssicherheit begingen. Da der Gatte unserer Direktorin ein hohes Tier bei der Staatssicherheit war, wurde der Tag der Miliz jedes Jahr ausgiebig gefeiert, wobei die jährlichen Berichte in der Schulchronik mit unfreiwillig komischen Zeichnungen von zähnefletschenden und bluttriefenden Schäferhunden gespickt waren. Diesmal sollte der Schule eine große Ehre erwiesen werden: Sie wurde nach dem heldenhaften Genossen Zdzisław Wizor benannt, einem engagierten jungen Leutnant der Staatssicherheit aus unserer Region, der 1946 im Kampf gegen eine konterrevolutionäre Bande – d.h. eine antikommunistische Widerstandsgruppe – ums Leben gekommen war. In der Schule lasen wir Zeitungsartikel über ihn, zum Beispiel diesen aus dem lokalen Parteiorgan, der Gazeta Pomorska:

      Das Gedenken am dreißigsten Jahrestag der Gründung der Volksmiliz und des Staatssicherheitsdienstes gilt Menschen, die sich mit hohem Einsatz dem Aufbau unseres Vaterlandes gewidmet haben. In den ersten Jahren nach dem Krieg, in einer Zeit, da die Fundamente der polnischen Volksdemokratie gelegt wurden, griffen Offiziere der Volksmiliz und des Staatssicherheitsdienstes zu den Waffen, um ihre sozialistischen Ideale zu verteidigen. Viele von ihnen opferten ihr Leben im Kampf gegen reaktionäre Banden. Heute ist das Andenken an sie erfüllt von der Achtung des ganzen Volkes.

      In der Polnischstunde schrieben wir Geschichten über den Helden und beschrieben die Vorbereitungen für den denkwürdigen Tag: »Die Poesiegruppe und der Chor arbeiten an einer künstlerischen Veranstaltung mit Worten und Musik«, heißt es in einem meiner Schulhefte. »Alle Schüler studieren ihre Rollen ein. Das Schulgebäude wird herausgeputzt. Die Außenmauern und die Wände wurden neu gestrichen, die Klassenzimmer werden geschmückt. Eine Auswahl aus Schülerzeichnungen über die Volksmiliz ist im Saal im ersten Stock zu besichtigen. Eine Gedenktafel zu Ehren unseres Helden wurde in der Halle aufgehängt.« Die Schülerzeichnungen entstanden im Rahmen eines Wettbewerbs zum Thema »Dreißig Jahre Volksmiliz aus der Sicht eines Kindes«. Die zehn besten Zeichnungen sollten im Warschauer Innenministerium ausgestellt werden.

      Am Gedenktag war die Versammlung auf dem Schulhof größer als üblich. An der Fassade des Schulgebäudes prangte die Parole: »Er lebt weiter in unseren Herzen.« Alle trugen Uniform und Halstuch – jede Klasse hatte ihre eigenen Farben. Unter den Gästen waren einige hochgestellte Persönlichkeiten: der Ortskommandant der Polizei, die Witwe unseres Helden und seine Tochter, ein Sekretär des örtlichen Parteikomitees, der Bezirksleiter des Bildungsressorts, der Vorsitzende des Veteranenverbandes der Kommunisten und die komplette Lokalprominenz. Die Milizkapelle spielte die Internationale, und wir leisteten den feierlichen Eid, in Leutnant Wizors heroische Fußstapfen zu treten.

      Während die Lehrer sich auf das andächtige Geschehen konzentrierten, waren wir heimlich damit beschäftigt, Münzen in einen Spalt zu werfen, der sich im Pflaster aufgetan hatte. Man mußte versuchen, seine Münze zunächst mit einem Wurf so nah wie möglich an den Spalt heran zu bekommen und dann mit dem Daumen immer näher und schließlich hinein zu schnippen. Wer dazu die wenigsten »Würfe« benötigte, hatte gewonnen und durfte die Münzen der anderen einsacken.

      Noch befinden sich die Fotos von der damaligen Zeremonie in der Schulchronik, und die Gedenktafel hängt nach wie vor an derselben Stelle. Doch bald wird die Schule ein weiteres Mal umgetauft, und die Tafel soll entfernt werden. Es hat sich mittlerweile herausgestellt, daß Leutnant Wizors heroischer Lebenslauf zu großen Teilen gefälscht war. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal einen Schulabschluß, und – wichtiger noch – langsam kommen Zweifel an seiner revolutionären Gesinnung auf. Es hat sich herumgesprochen, daß sein Eifer vielleicht weniger mit seinen kommunistischen Überzeugungen zu tun hatte, sondern vielmehr dazu dienen sollte, von seiner Kollaboration mit den Nazis zu Kriegszeiten abzulenken. Davon hat uns 1974 natürlich niemand etwas erzählt.

      Was die Indoktrinationsversuche anbelangt, war die »Freiwilligenarbeit« wohl die entlarvendste Aktivität, die uns die Schule zumutete. Freiwillig war die Teilnahme daran natürlich keineswegs. Normalerweise wurden wir für die Kartoffelernte zu landwirtschaftlichen Genossenschaften abgeordnet. Die Ausflüge wurden von der Schule organisiert und sollten uns, der zukünftigen Intelligenzija, Respekt vor der Mühsal unserer Genossen Arbeiter und Bauern einflößen. Tatsächlich hat man uns die sozialistische Arbeitsmoral beibringen können. Wir mußten hinter einer Maschine herlaufen, die die Kartoffeln aus dem Boden hob; unsere Aufgabe bestand

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