Das polnische Haus. Radosław Sikorski

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Das polnische Haus - Radosław Sikorski eva digital

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bekamen, drückten wir jedoch jede zweite Kartoffel mit einem ordentlichen Tritt zurück in den Boden. Am Ende unserer Schicht war zwar das Feld leer, aber der Laster erst halb voll. Die Bauern wußten natürlich, was los war, und ließen dasselbe Feld durch verschiedene Schulklassen wieder und wieder abernten. Ich zweifle sehr daran, ob unser Beitrag das Benzin wert war, das für unsere Busfahrt aufs Land aufgewendet wurde.

      In den Fabriken stahlen wir alles, was nicht niet- und nagelfest war. Einmal wurden wir in einen Tochterbetrieb von Romet, Polens größtem Fahrradhersteller, entsandt. Nachdem wir uns einen Tag lang um die Arbeit herumgedrückt hatten, verließ jeder die Fabrik mit einem Haufen Ersatzteile für sein Fahrrad, die man in den Läden oft nicht bekommen konnte.

      Als wir schon etwas älter waren, wurde die Gehirnwäsche unter dem Titel »Staatsbürgerliche Erziehung« in einem speziellen Kurs durchgeführt. Dort wurden wir über die sozialistische Verfassung, das Einmaleins des Klassenkampfs und das Übel des Kapitalismus informiert. Ein Jahr lang hatten wir in diesem Kurs eine Lehrerin, die ungewöhnlich groß war und ständig rosa, orange und violette Klamotten trug. Sie glaubte wirklich an die Dinge, die sie uns lehrte. Wir nannten sie Skarpeta, auf deutsch »Socke«, weil sie einmal eine Socke aus ihrer Tasche nahm, um sich damit die Nase zu putzen. In ihrem Unterricht setzten wir uns nie in die vorderen Bänke, denn ihr fehlte ein Zahn, und wenn sie sich aufregte, was häufig vorkam, spuckte sie die armen Schüler in der ersten Reihe an. Wenn man sich mit ihr anlegte, egal, um welches politische Thema es ging, wurde sie wütend. »Wie kannst du das sagen? Meine Eltern waren Bauern, ich bin Lehrerin. Sieh doch, was wir alle dem Sozialismus verdanken!«

      Mein Gymnasium befand sich im Zentrum von Bydgoszcz und war ebenfalls nach einem Kommunisten benannt worden, einem Aktivisten aus dem 19. Jahrhundert namens Ludwik Waryński. Dort schrieb ich auch die Prüfung in Geschichte, die meine Mutter im Schrank versteckt und für die Nachwelt aufgehoben hat:

      1 Erörtere das Problem des privaten Landeigentums von 1947 bis 1956; nach 1956; heute.

      2 Erörtere die sozialpolitischen Neuerungen für die Landbevölkerung in den Jahren 1971 bis 1980.

      3 Durch welche Regierungsmaßnahmen können die Situation der Landwirtschaft und die nationale Nahrungsversorgung verbessert werden?

      4 Erörtere die Organisationsformen der landwirtschaftlichen Selbstverwaltung.

      Meine Antwort auf die erste Frage begann folgendermaßen: »Nachdem die Exilregierung in London am 1. August 1944 eine Bodenreform beschlossen hatte, sah sich die kommunistische Regierung aus politischen Gründen gezwungen, ihrerseits eine Bodenreform anzukündigen ...«

      Rückblickend wunderte ich mich, wie ich überhaupt zu meinem Wissen über die polnische Exilregierung kam, die im Unterricht als ein belangloses Intermezzo abgetan wurde. Denn was wußte man schon? Als ich 1990 einige Kolchosen in der Sowjetunion besuchte, fragten mich die Leute allen Ernstes, wo das Leben besser sei: dort oder im Westen. Doch als ich mich an meine Jugend erinnerte, wurde mir bewußt, daß die offizielle Erziehung nur einen Teil – und zwar den kleineren Teil – meiner Entwicklung ausmachte.

      Anders als mein erstes politisches Erlebnis der Maidemonstration, das ich zeitlich nicht genau einzuordnen vermag, kann ich das zweite Erlebnis, das im Gedächtnis haftengeblieben ist, genauer datieren, und zwar auf den Dezember des Jahres 1970. Ich war damals siebeneinhalb Jahre alt. Eines Tages kam mein Vater mit ein paar Zeitungen nach Hause, die dicker als üblich waren. Sie enthielten lange Listen mit neuen Preisen, die die Regierung für alles mögliche – von Zahncreme über Kartoffeln und Klopapier bis hin zu Traktoren – festgelegt hatte. »Das wird Ärger geben«, sagte mein Vater. »In den fünfziger Jahren hätten sie es anders gemacht. Da hätten sie die Preise für Verbrauchsgüter angehoben und die für Lokomotiven und Panzer gesenkt, so daß sie sagen konnten, unterm Strich sei alles beim alten geblieben.«

      Damals lebten wir in einer Zweizimmerwohnung. Ich schlief mit meiner Mutter in einem Zimmer, mein Vater schlief fast jeden Abend im anderen Zimmer ein, während er Radio Free Europe hörte. Von meinem Kinderbett aus konnte ich die Stimmen hören, die hin und wieder durch das pochende, pulsierende Geräusch des Störsenders drangen, um bald wieder abzuflauen. Zwar sprach sich herum, daß immer eine Frequenz des Senders nicht gestört wurde, damit für die Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei eine Transkription hergestellt werden konnte, aber diese Frequenz war nur schwer zu empfangen, und unser primitives Hörfunkgerät war nicht viel mehr als eine große Holzkiste, ein Produkt aus den Tagen vor der Erfindung des Transistors.

      Kurze Zeit, nachdem die Zeitung die Preiserhöhungen veröffentlicht hatte, bekam ich mit, daß Radio Free Europe schlechte Nachrichten zu verkünden hatte. Mein Vater bemühte sich noch eifriger als sonst um die richtige Abstimmung der Frequenz. Als wir den Sender endlich hören konnten, meldeten die polnischen Nachrichtensprecher in München, daß in mehreren Städten Polens Arbeiteraufstände ausgebrochen waren, wobei es auf der Werft von Gdańsk sogar Tote gegeben hatte. Tagelang schwiegen sich die offiziellen Medien über die Zwischenfälle aus, bis plötzlich das Fernsehen über die Ereignisse berichtete: Schwarzweißaufnahmen von Krawallen und von Menschen, die Geschäfte plünderten. Die örtliche Parteizentrale stand in Flammen, Soldaten gaben Schüsse ab. Als wir den Bruder meines Vaters in Gdańsk anrufen wollten, stellten wir fest, daß die Leitungen abgestellt worden waren.

      Die Krise dauerte an. Władysław Gomułka, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, trat »aus gesundheitlichen Gründen« zurück. Nach Weihnachten hielt Edward Gierek, der neue Parteiführer, eine Rede an das Volk. Ich sagte meinem Vater, daß jetzt die Fotografen bestimmt viel zu tun hätten. Denn Porträts des Parteiführers hingen in Schulräumen, Büros, einfach überall, und jetzt mußten alle ausgetauscht werden. Mein Vater lachte, als ich ihn fragte, wie lange das wohl dauern würde.

      Radio Free Europe war aber nur eine unter vielen Informationsquellen, die dem widersprachen, was man in meiner Schule und in den offiziellen Medien verbreitete. Im privaten Umfeld hat niemand versucht, meine politischen Ansichten zu beeinflussen, noch hat jemand mich dazu ermutigt, mich der Untergrundbewegung anzuschließen, illegale Zeitungen zu drucken oder gegen die Regierung zu agitieren. Doch auf vielerlei Weise habe ich durch verschiedene Familienmitglieder und durch ihre Erzählungen schon im jungen Alter erfahren, daß das Leben mehr zu bieten hatte als Staat, Schullehrer und Zeitungen.

      Der liebste unter den Verwandten war und ist mir Onkel Klemens, der ältere Bruder meines Vaters, der als Büchsenmacher in Gdańsk lebt. Wir sahen ihn höchstens ein paarmal im Jahr, aber jeder Besuch war ein Fest. Er hatte eine Werkstatt an der Mariackastraße, Gdańsks Prachtstraße in unmittelbarer Nähe der gotischen Kathedrale und des mittelalterlichen Rathauses. Häuser, die mit ihren gemeißelten und vergoldeten Fassaden an Amsterdam erinnern, zeugen immer noch davon, daß die Stadt einst so reich war wie Venedig. Die Werkstatt meines Onkels befand sich im Erdgeschoß eines solchen Patrizierhauses, das über einen Vorhof und eine steinerne Treppe verfügte. Den Vorhof bewachten zwei Geschütze, zwei Hellebarden umrahmten den Eingang. Drinnen waren die Wände von oben bis unten vollgehängt mit Jagdmessern, Pistolen, Schwertern und Rapieren, Pulverbehältern, Signalhörnern, Geweihen und Gewehren. Es roch nach Leder, Öl, Metallspänen und Poliermittel. Nach langem Streit mit der Stadtverwaltung hatte Onkel Klemens einen tiefen Keller unter dem Haus gegraben, um dort einen kleinen Schießstand einzurichten. Eine schmale Treppe mit einem Geländer aus Geweihstangen führte hinunter in die Höhle, wo meine Neffen und ich mit den Luftgewehren meines Onkels wahre Schützenfeste veranstalteten.

      Zu Zeiten, als man es für schick hielt, alte Holzmöbel durch Einrichtungsgegenstände aus Resopal zu ersetzen, sammelte mein Onkel haufenweise

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