Das polnische Haus. Radosław Sikorski

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Das polnische Haus - Radosław Sikorski eva digital

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unter der Decke drang ein wenig Licht. Bevor unsere Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, stolperte ich über ein großes Stück Holz. Plötzlich wurde ein Goldschimmer sichtbar. Große Kreise, Ovale und Quadrate leuchteten an den Wänden, am Boden lagen Goldbarren. Allmählich konnten wir sehen, wie rosa Gesichter sich in den vergoldeten Rahmen abzeichneten. »Es ist eine Kirche«, flüsterte einer von uns. Auf einmal bekamen wir es mit der Angst. Barfuß und in Badehosen blieben wir wie angewurzelt stehen und staunten beim Anblick der Dinge um uns herum. Die Kirche war entweiht worden. Das Stück Holz, über das ich gestolpert war, entpuppte sich als eine kaputte Bank, und die Goldbarren waren in Wirklichkeit Reste eines Altars, die zusammen mit anderen Trümmern des Kircheninventars über den Boden verstreut lagen. Die meisten Gemälde waren zerrissen oder – wahrscheinlich mit Bajonetts – zerschnitten worden. Das riesige Deckengemälde, das Christus mit Heiligenschein und Schwert darstellte, wies eine Reihe von Einschußlöchern auf, die quer über das byzantinische Gesicht verlief. Als wir uns vom ersten Schrecken erholt hatten, sagte einer, wir sollten gucken, ob wir Ikonen finden könnten.

      Einen Moment lang stellten wir uns vor, wir wären Tom Sawyer und Huckleberry Finn und würden mit reichen Schätzen zurückkehren. Aber die Begeisterung hielt sich in Grenzen, der Anblick der Zerstörungen war eher furchteinflößend. Wir schlichen davon und machtenuns mit einem traurigen Gefühl auf den Rückweg. Es war spät und dunkel geworden, als wir den Campingplatz erreichten, wo unsere wütenden Eltern längst auf uns warteten. Wir versuchten, sie zu beschwichtigen, indem wir von unserer Entdeckung erzählten, und forderten sie auf, am nächsten Tag mit uns zur Kirche zu gehen. Vielleicht handelte es sich bei den Gemälden um verlorengeglaubte Meisterwerke, deren Wiederentdeckung uns berühmt machen würde. Die Erwachsenen hatten allerdings andere Ansichten. Wir erhielten eine deftige Standpauke, und der Strand hinter den Felsen wurde für die restliche Dauer unseres Aufenthalts zum Sperrgebiet erklärt.

      In Istanbul schlugen wir unsere Zelte auf einem weiten Feld am Fuß der römischen Stadtmauer auf – wie eine Belagerungsarmee. Die Campingplatzverwaltung hatte ein großes Schild in polnischer Sprache aufgestellt, das jeden Handel auf dem Gelände untersagte. Aber niemand schien sich darum zu kümmern. Ständig strömten Besucher vorbei, die unsere Ware zu sehen wünschten. Mittlerweile waren wir jedoch geschäftstüchtig genug, um zu wissen, daß es besser war, gleich in den Basar zu gehen, als sich mit den kleinen Zwischenhändlern abzugeben.

      Wir schauten uns die Sehenswürdigkeiten wie die Hagia Sophia, die Blaue Moschee und die unterirdische römische Zisterne an, doch am meisten beeindruckte mich die NATO-Basis in einem der Vororte Istanbuls. Wir hatten eine falsche Abzweigung genommen und gerieten versehentlich auf ein Kasernengelände. Plötzlich fuhren wir an langen Panzerkolonnen vorbei. Wir hielten an und fürchteten schon, daß man uns verhaften oder zumindest vernehmen würde. Statt dessen wurden wir von einem schwarzen Soldaten – dem ersten Schwarzen, den ich überhaupt mit eigenen Augen sah – mit einem breiten Lächeln begrüßt. Dadurch ermuntert, stieg ich aus dem Wagen und bestand darauf, daß er sich mit mir vor einem der Panzer fotografieren ließ. Die Erwachsenen fragten sich nur, wie der Westen bei solchen Sicherheitsvorkehrungen den Kalten Krieg zu gewinnen gedachte.

      Der Höhepunkt der Reise war der Besuch im Basar. Hier entschied sich, ob wir einen Gewinn von ein paar Hundert Dollar einfahren, nur die Reisekosten ausgleichen oder einige Hunderter draufzahlen würden – entweder konnten wir ein Polster für den nächsten Urlaub anlegen, oder meine Eltern müßten ein ganzes Jahr sparen, um den Verlust wieder wettzumachen. Unser armseliger Vorrat war alles, was wir hatten, also ließen wir ihn keine Sekunde aus den Augen. Nicht nur unsere Kristallschalen, Elektrogeräte und Brieftaschen hätten langen Fingern zum Opfer fallen können, sondern freundliche Händler warnten meine Eltern, daß mancherorts in Kleinasien immer noch große Nachfrage nach hellhäutigen Jungen wie mir bestand. »Nehmen Sie ihn lieber die ganze Zeit an die Hand«, empfahlen sie.

      Die Geschäfte, die mit polnischer Ware handelten, waren leicht zu erkennen, da an ihren Fenstern gefälschte Empfehlungsschreiben von berühmten polnischen Fußballspielern klebten. Das waren noch Zeiten, als unsere Nationalelf ihre großen Triumphe feierte. Die Regierung stellte den Spielern damals großzügige Siegesprämien in Aussicht – in ganz Polen machte das Gerücht die Runde, daß die Spieler für jeden Sieg einen Fiat bekämen. Der Regierung kam es wohl nicht ungelegen, wenn die Leute sich so sehr mit Fußball befaßten, daß sie darüber die Lebensmittelknappheit und die Politik vergessen würden. Womöglich dank dieses kapitalistischen Ansatzes war die polnische Nationalmannschaft während der siebziger Jahre sehr erfolgreich; sie gehörte zu den besten Teams bei der Weltmeisterschaft und gewann Medaillen bei den Olympischen Spielen. Immer, wenn wir Bekanntschaft mit Türken machten, wurden deshalb erst einmal die Namen der polnischen Fußballer abgespult:

      »Lubánski – gut, oder?«

      »Nein, Gadocha besser.«

      »Lato o.k.?«

      »Ja, Lato o.k.«

      Zu dieser Zeit, Anfang bis Mitte der Siebziger, war dieser Handel eine harmlose Nebenbeschäftigung, mit der Tausende von Familien aus der Mittelschicht nur versuchten, ihr Einkommen ein wenig aufzubessern. In den achtziger Jahren wuchs er sich aber zu einem eigenständigen Wirtschaftszweig mit professionellen Händlern aus, die das ganze Jahr über zwischen Polen und den östlichen Märkten hin und her pendelten. Für Millionen von polnischen Familien bedeuteten die Basargeschäfte, in denen man Kristallvasen und Küchengeräte aus Polen gegen harte Devisen oder Gold tauschte, eine Einführung in den angewandten Kapitalismus. In den neunziger Jahren gründeten dieselben Leute oder deren Kinder die kleinen Firmen, die die treibende Kraft unseres wirtschaftlichen Aufschwungs bilden. Doch es war in jenen Tagen, in Istanbul und später auf den Märkten von Westberlin und Wien, daß die Polen den Kapitalismus fürs Volk entdeckten.

      Durch die Erfahrung des realexistierenden Kapitalismus bekam mein Bild des realexistierenden Sozialismus seine ersten Risse. Ein noch wichtigeres Gegenmittel stellten aber Bücher dar, nicht notwendigerweise illegale Schriften von Emigranten, sondern sogar frei zugängliche Jugendbücher. Unser großes nationales Epos aus dem 19. Jahrhundert, Henryk Sienkiewicz’ Trilogie, habe ich bestimmt fünfzehn Mal gelesen. Es spielt in der dramatischen Zeit von 1648 bis 1684, als das polnische Reich einen abrupten Niedergang erlebte. Nach dem Willen der Kommunisten sollten wir uns mit toter Ideologie identifizieren, nach Zielen wie höheren Produktionszahlen streben und stumpfsinnige Fanatiker bewundern. Sienkiewicz vermittelte ganz andere Werte und einen anderen Verhaltenskodex: Mut, Ehre, Ritterlichkeit. In Gedanken versetzte er mich zurück in eine Zeit, da die Polen sogar in größter Not zuversichtlich und stolz bleiben konnten. In der Trilogie wurden die Helden der Kriege gegen Kosaken, Tataren und Schweden zum Leben erweckt: unerschrockene Edelmänner, treue Diener, gewitzte Bauern und jungfräuliche Damen. Wenn ich heute die Trilogie wieder lese, fallen mir freilich ihre Schwächen auf. Die meisten von Sienkiewicz’ Figuren sind klischeehaft, oberflächlich und unglaubwürdig. So wissen wir von vornherein, daß Pan Zagłoba, der dicke, schlitzohrige Stutzer, in Wahrheit ein goldenes Herz hat, seinen Freunden immer treu bleiben und jede Krise souverän meistern wird. Jan Skrzetuski, streng und unbeugsam wie ein Römer, weicht dagegen niemals vom Pfad der Tugend ab und wird am Ende wieder mit seiner totgeglaubten Braut vereint. Und es muß so kommen, daß Pan Wołodyjow, ein kleiner Ritter und ausgezeichneter Schwertkämpfer, den Heldentod wählt und sich lieber selbst in die Luft jagt, als die Burg von Kamieniec Podolski den türkischen Belagerern zu überlassen. Meine Lieblingsfigur war Andrzej Kmicic, eine der wenigen Gestalten, die zwischen Gut und Böse hin- und hergerissen sind. Er ist ein Schelm, der während der schwedischen Invasion von 1655 durch eine List dazu getrieben wird, dem Verräter Prinz Janusz Radziwił zu dienen. Seine wunderschöne Verlobte Oleńka, eine von Sienkiewicz’ absurden, vor Vaterlandsliebe schmachtenden Frauenfiguren, will aber eher ins Kloster gehen, als einen Kollaborateur zu heiraten. Der Bruch zwischen ihnen wird noch vertieft, als sie von einem weiteren abtrünnigen Aristokraten erfährt, daß Kmicic versucht hat, den legitimen Fürsten umzubringen – obwohl Kmicic zu diesem Zeitpunkt wieder zum Pfad der Tugend zurückgefunden hat und täglich sein Leben

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