Das polnische Haus. Radosław Sikorski

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Das polnische Haus - Radosław Sikorski страница 12

Das polnische Haus - Radosław Sikorski eva digital

Скачать книгу

Marienstatue errichtet worden, und man könne noch erkennen, wie unter Lenins Mantel die Lilien auf dem Kleid der Jungfrau Maria hervorlugten. Ich habe angestrengt hingesehen, aber nichts davon entdecken können. (Jahre später, es war 1991, erlebte ich mit Genugtuung, daß Lenin vom Platz entfernt wurde, und die Mär bewahrheitete sich irgendwie doch, wenn auch auf unerwartete Weise. Es stellte sich heraus, daß für den Sockel des Standbilds Grabsteine vom jüdischen Friedhof verwendet worden waren.)

      Überhaupt schienen viele Gebäude in Lwów der offiziellen Geschichtsschreibung zu widersprechen. So prangte an der Fassade des Jesuitenklosters ein großes Wappen der alten Union – mit dem polnischen Adler und dem litauischen Ritter. Unter dem bröckelnden Putz von Jugendstilwarenhäusern kamen polnische Namen zum Vorschein. An einem Haus in der Rosa-Luxemburg-Straße hing immer noch ein verrostetes Schild mit der Hausnummer und dem polnischen Straßennamen Kanonia. Wahrscheinlich waren die sowjetischen Arbeiter zu faul gewesen, es herunterzunehmen – es hing zu hoch, als daß man mit einer einfachen Leiter herangekommen wäre. Manche alte Männer, die uns Polnisch sprechen hörten, grüßten uns oder zerrten uns zwecks einer heimlichen Unterredung in einen Hauseingang. Sie gehörten zu den Leuten, die Polen nicht rechtzeitig vor den »ethnischen Säuberungen« der vierziger und fünfziger Jahre verlassen hatten. »Haben Sie polnische Briefmarken?« fragte mich einmal ein gekrümmter alter Mann mit weißem Haarschopf. Er schaute mich, einen pubertierenden Teenager, untertänig an. »Ich möchte nur etwas haben, was aus Polen kommt.« Das Wort »Polen« sprach er mit einer fast religiösen Ehrfurcht aus.

      Die offiziellen Lügen waren im Falle Lwóws besonders kraß, da die Stadt, anders als weite Flächen Ostpolens, niemals zu Rußland gehört hat, nicht einmal während der polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts. Die Stadtmauern stammten aus dem Mittelalter, es gab Kirchen aus der Renaissance, dem Barock und dem Klassizismus sowie eine armenische Kathedrale mit einem Friedhof, wo armenische Adelige ruhten und die Gräber mit dem polnischen Wappen geschmückt waren. Eine prunkvolle unierte Basilika überragte auf einem Hügel die Stadt. Ein leerer Platz markierte die Stelle, wo einst die Synagoge stand. Lwów, seit dem Mittelalter eine Handelsstadt, war schon immer reich gewesen und hatte im 19. Jahrhundert noch einen kleinen Öl-boom erlebt. In der Stadt war ein amerikanisches Konsulat angesiedelt, ein vornehmes Hotel (das George, das einem Franzosen gehörte) und ein Opernhaus, das der Scala in verkleinertem Maßstab nachgebildet war. Die Straßen von Lwów hatten immer noch ein starkes bürgerliches Flair. Wenn ich die Augen schloß, sah ich noble Automobile über das Kopfsteinpflaster rollen, promenierende Damen in Pelzmantel und geschäftige Herren in Zylinder. Wenn ich die Augen wieder öffnete, sah ich die neuen sowjetischen Bewohner, die seltsam mit der Architektur der Stadt kontrastierten, keinen Sinn für ihre mondäne Vergangenheit zu haben schienen: Bäuerinnen mit Kopftüchern und groben Gesichtszügen, stämmige Männer, die billige Aktentaschen mit sich herumschleppten.

      Lwóws gotische Kathedrale wurde von Kasimir dem Großen errichtet, demselben König, der auch meiner Heimatstadt Bydgoszcz das Stadtrecht verliehen hatte. In den Seitenschiffen der Kathedrale befanden sich Marmorgräber von polnischen Adeligen. Fresken und Gemälde erinnerten an Szenen aus der heroischen Stadtgeschichte: die Verteidigung gegen die Tataren, die Brandschatzung durch die Schweden. Doch trotz aller historischen Größe war die einst so bedeutende Kathedrale durch die Willkür der Sowjetbürokraten mit Schließung bedroht. Wir besuchten die Kathedrale jedesmal auf unserer Reise in den Süden, so auch 1979, nur Monate, nachdem Karol Wojtyła zum Papst gewählt worden war. Nach der Messe bahnte ich mir einen Weg zum Altar und zu einer Seitentür im Presbyterium, durch die man in die Sakristei kam. Jacek, der Sohn von Freunden meiner Eltern, die zusammen mit uns reisten, begleitete mich. Wir hatten ein Paket bei uns, dessen Inhalt ich meinen Eltern erst nach der Überquerung der sowjetischen Grenze verraten hatte, weil er uns Ärger hätte einbrocken können: Es handelte sich um mehrere Hundert Bilder vom neuen Papst. Sie bildeten einen Teil meiner Handelsware, und eigentlich hoffte ich, sie verkaufen zu können. Jetzt jedoch, in der Kathedrale, schien es mir richtiger, sie zu verschenken. Die Sakristei war mit dunklem Holz getäfelt. Eine alte Frau, die sich womöglich nicht nur an die polnischen, sondern auch an die österreichischungarischen Zeiten erinnern konnte, saß an einem großen Schreibtisch und machte Eintragungen in einem Hauptbuch. Sie schaute hoch, und ich übergab ihr das Paket.

      »Ich habe sie aus Polen mitgebracht, weil ich dachte, daß sie hier vielleicht schwer zu bekommen sind. Ich hoffe, Sie können sie gut gebrauchen.«

      Sie öffnete das Paket, breitete ein paar Bilder auf der Tischplatte aus und schwieg eine Weile, während sie auf die Bilder starrte. Dann blickte sie wieder hoch: Sie machte ein ernstes Gesicht, aber ihre Augen leuchteten. Sie weinte. »Der Herrgott hat euch gesandt. Es sind schon viele Menschen von weither gekommen. Sie hatten von unserem neuen Papst gehört, aber noch nie sein Gesicht gesehen, weil die Zeitungen und das Fernsehen es nicht zeigen. Wir konnten ihnen nichts geben, denn wir hatten selbst keine Bilder. Jetzt haben wir welche. Viele Menschen werden noch lange für euch beten.«

      »Keine Ursache, ich habe nur meine Pflicht getan«, murmelte ich, und Jacek und ich schlichen gerührt, aber etwas beschämt zur Tür.

      »Panowie!« Ihre Stimme klang plötzlich laut und deutlich und schreckte uns auf, als wir gerade zur Tür hinausgehen wollten. Wir standen sofort stramm; es war das erste Mal, daß jemand uns als »Herren« anredete. »Wann werden Sie wieder nach Lwów kommen?« fragte sie.

      »Nächstes Jahr wahrscheinlich, wenn wir wieder in die Türkei fahren«, erwiderte ich.

      »Nein, ich meinte: in Uniform, meine Herren. Wann werden Sie in Uniform nach Lwów kommen? Wir wünschen uns nichts lieber.«

      Wir alle betrachteten Lwów mittlerweile als sowjetische Stadt und nahmen an, daß sich daran so bald nichts ändern würde. Und doch erfuhr ich durch Lwów einen tiefen Respekt für die polnische Vergangenheit. Die Erfahrung einer verbotenen Wahrheit, die dort mit Händen zu greifen war, immunisierte mich gegen die offiziellen Lügen. Als ich später im Exil über die Massaker las, die dort stattgefunden hatten, nachdem die Rote Armee 1939 in die Stadt einzogen war, mußte ich an den alten Mann denken, der mich um polnische Briefmarken gebeten hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, was er alles durchgemacht haben mußte, daß er sich sogar nach dem kommunistischen Polen sehnen konnte.

      Unseren nächsten Zwischenstopp nach Lwów machten wir normalerweise im Süden Bulgariens auf einem Campingplatz namens Nestinarka, der am Schwarzen Meer gelegen war. Unser Sprungbrett für die Weiterreise in die Türkei verfügte über ein Gebäude mit furchtbar verschmutzten öffentlichen Toiletten, das wir das »Weiße Haus« nannten, doch dafür entschädigte die gute Lage direkt an einem goldgelben, kilometerlangen Strand. Die meisten Campingbesucher waren Touristen aus anderen kommunistischen Ländern: Ostdeutsche, Ungarn und Tschechoslowaken – die alle auf uns Polen neidisch waren, da wir als einzige unsere Reise über die Grenzen der Bruderstaaten hinaus fortsetzen durften. An beiden Enden des Campingstrands befanden sich Felsen aus Vulkangestein, die jeweils einen kleinen Nacktbadestrand umgrenzten. Dort tummelten sich zwar auch ein paar ortsansässige Gigolos auf der Suche nach ausländischer Kundschaft, aber die meisten FKKler waren wohl deutsche Familien – von schrumpeligen Großmüttern bis zu dicklichen Enkeltöchtern –, die sich unbekümmert gaben, ob beim Sonnen, Windsurfen oder Schnorcheln. Die Polen waren dagegen ziemlich verklemmt. Allerhöchstens entblößten die Frauen ihre Brust, um sie jedoch sofort wieder einzupakken, wenn sie die Stimmen von Teenagern vernahmen, die in ihrer eigenen Sprache Kommentare abgaben.

      Manchmal machte sich die politische Wirklichkeit Bulgariens auch in unserem Urlaub bemerkbar. Auf einem Streifzug mit Freunden wagte ich mich einmal weiter vor als sonst, bis der Strand völlig menschenleer war. Hoch oben auf einem Felsvorsprung, der weit ins Meer hineinragte, entdeckten wir ein faszinierendes Bauwerk. Es war schon fast dunkel, als wir einen steilen Pfad hinaufkletterten, wobei wir uns an kleinen Steinbrocken hochhangeln mußten. Das Gebäude war von unbestimmtem Alter und bestand aus demselben Felsmaterial, auf dem es errichtet worden war. Eine schwere Holztür war mit einer rostigen Eisenkette verschlossen, doch wir

Скачать книгу