Das Prinzip der Parteiliteratur. Hans Poerschke
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VERGESST LENIN! ABER STUDIERT IHN VORHER UNBEDINGT. EIN VORWORT
»Man kann unterschiedlicher Meinung über ihn sein, aber er gehört zu unserem historischen Erbe«, schrieb einer meiner Doktoranden am 22. April auf Facebook. »Für mich ist er ein Genie der Politik, ein beeindruckender Theoretiker und ein Kind seiner Zeit. Herzlichen Glückwunsch zum 150. Geburtstag!« Elf Likes, immerhin. Ein zweiter Doktorand, ein Influencer mit deutlich mehr Followern, brachte es am gleichen Tag mit sehr viel weniger Text auf 129 Likes: »Alles Gute zum 150. Geburtstag, Lenin!«
Lenin lebt, nicht nur wegen der beiden Ausrufezeichen. Ich sehe sein Bild, wenn ich bei Freunden zu Besuch bin, und ich höre gar nicht nur zwischen den Zeilen, dass Lenins früher Tod die Wurzel allen Übels sein soll, das zunächst der russischen Revolution widerfahren ist und dann auch den Sozialismus-Versuchen, die ihr folgten. Mit Lenin, so lässt sich das zusammenfassen, wäre das alles nicht passiert. Mit Lenin kein Gulag und keine Jagd auf Genossinnen und Genossen. Mit Lenin kein Massenmord an den eigenen Leuten, keine Allmachts- und Bedrohungsfantasien und damit auch kein Bespitzelungsapparat, der die Idee einer Gesellschaft pervertierte, in der alle frei und gleich sein würden. Lasst es uns also noch einmal versuchen, wird daraus geschlussfolgert, diesmal aber ohne Stalin. Lasst uns eine Bewegung gründen, die Lenin beim Wort nimmt, und es wird viel, viel besser werden.
Das Buch von Hans Poerschke zerstört diese Illusion. Poerschke ist im Wortsinn bis zu den Wurzeln vorgedrungen – zu dem Ort, an dem das Lenin’sche Prinzip der Parteiliteratur entstanden ist, ein Prinzip, das später in allen kommunistischen Parteien auf den Umgang mit der Presse übertragen wurde und auch die Medienpolitik der SED bis 1989 prägte. Hans Poerschke geht davon aus, dass man Lenins Vorstellungen von Journalismus, Medien und Öffentlichkeit nur verstehen kann, wenn man sein Parteikonzept kennt, und hat deshalb die entsprechenden Dokumente aus der Frühgeschichte der russischen Sozialdemokratie im Original studiert. Die Protokolle des II. Parteitages von 1903 und des III. Parteitages von 1905, Briefe und Erklärungen der führenden Genossen, Iskra-Artikel. Poerschke findet hier nichts anderes als bei seinem zweiten Analyseschritt, der in die Revolutionszeit führt – zum Pressegesetz, das die provisorische Regierung im April 1917 erlassen hat, zum Umgang mit den Organen der Konkurrenz in den Monaten des Umbruchs und zur ›Sache Gawriil Mjasnikow‹ von der ich hier nicht zu viel vorwegnehmen mag, weil ich den Apologeten Lenins nicht den Schmerz ersparen möchte, der sich bei der Lektüre unweigerlich einstellt.
Hans Poerschke zeigt: Pressefreiheit und Meinungsstreit waren bei Lenin nie vorgesehen, nicht einmal in der eigenen Partei. Es war nicht geplant, die Kontrolle der Medien aufzugeben oder sie mit den Werktätigen zu teilen. Eine Gesellschaft, die sich auf Lenin beruft, wird von einer kleinen Clique allmächtiger und allwissender Funktionäre geleitet, die daran glauben, das Volk erziehen und auf den ›richtigen‹ Weg bringen zu können. Mehr noch: In Lenins Revolutionskonzept gibt es keinen Platz für eine Öffentlichkeit, die erlauben würde, alle Themen und alle Perspektiven vor dem Horizont aller zu diskutieren. Das ist keineswegs eine temporäre Erscheinung, die man mit dem Druck oder der Überlegenheit des Gegners erklären könnte und die verschwinden würde, wenn die eigene Sache erst einmal gewonnen hat. Nein. Der Verzicht auf Öffentlichkeit gehört zum Prinzip der Parteiliteratur. Auch das wichtigste Gegenargument zerfällt unter dem Druck des Materials, das Hans Poerschke ausbreitet. Ja, die sowjetischen Revolutionäre waren von Feinden umzingelt, innen wie außen. Und nochmal ja: Wenn einem der Feind das Messer an die Kehle hält, ist keine Zeit für Diskussionen. Lieber die Macht erhalten und dafür auf Pressefreiheit verzichten, als allen Raum geben und dabei die Macht verspielen. Wer dieses Buch liest, der lernt: Dieser Existenzkampf war kein Zufall. Lenin und die Bolschewiki wollten es genau so. Und einen Plan B, der die bürgerlichen Freiheiten einschließt, vielleicht irgendwann nach dem großen Sieg, gab es nicht einmal für die süßeste aller Utopien.
HANS POERSCHKE ALS PROFESSOR IN LEIPZIG
Hans Poerschke erzählt in diesem Buch auch von sich selbst. Wenn man so will: von einem Leben mit dem Prinzip der Parteiliteratur. Poerschke, geboren 1937, ist nach dem Abitur zum Studium an die Fakultät für Journalistik nach Leipzig gekommen und hat sich dort bis an die Spitze hochgearbeitet. 1959 Diplom, 1969 Promotion A, 1982 Promotion B, 1983 ordentlicher Professor. Man kann das in einem biografischen Interview nachlesen, das ich 2015 mit ihm geführt habe.i Bei diesem Gespräch habe ich gelernt, warum ausgerechnet dieser Mann, der kein Praktiker war und sich wenig daraus machte, die Medienprofis der Zukunft in ihr Handwerk einzuführen, im Herbst 1989 zunächst in ein dreiköpfiges Übergangsdirektorium gewählt wurde und im Oktober 1990 dann als einziger aus diesem Trio eine Vertrauensabstimmung überstand. Hans Poerschke ist authentisch. Es gibt bei ihm kein schnelles Urteil und keine Pointe um der Pointe willen. Dieses Buch lebt vom Ringen des Autors mit seinem Gegenstand.
Schon als Student habe ich das genauso bewundert, wie ich daran gelitten habe. Ich bin im Herbst 1988 an der Karl-Marx-Universität immatrikuliert worden und hatte schon wenig später Texte von Hans Poerschke auf dem Schreibtisch, gedruckt auf schlechtem Papier, zusammengeheftet per Hand (vielleicht auch mit einer Maschine, aber für den Leser machte das keinen Unterschied). Es ging um Öffentlichkeit und Sozialismus und vor allem um die Frage, wie eine Medienpolitik aussehen könnte, die gute Zeitungen und Nachrichtensendungen zulässt. Einen Journalismus, der die Menschen nicht abstößt.ii Es war nicht leicht, das Neue in den gewundenen Formulierungen zu entdecken. Ich wusste aber: Es lohnt sich, mit diesen Texten zu kämpfen.
Hans Poerschke ist für mich dann zu einem der Köpfe meines Studiums geworden – weniger wegen seiner theoretischen Arbeiten, sondern vor allem als Organisator und Fels in der Brandung des Umbruchs. Am 21. Dezember 1990 war er beim sächsischen Wissenschaftsminister Hans Joachim Meyer in Dresden, mit Günther Rager aus Dortmund und einigen Studentenvertretern. Mit dem Rückenwind von Demonstrationen, einer Rektoratsbesetzung und einem Hungerstreik hat es diese Delegation geschafft, dass der Beschluss, die Sektion Journalistik ersatzlos abzuwickeln, zurückgenommen wurde.iii Für das Sommersemester 1991 stellte Poerschke ein Programm zusammen, bei dem sich Dozentinnen und Dozenten aus dem Westen die Klinke in die Hand gaben. Nur ein paar Namen aus dem Vorlesungsverzeichnis: Günter Bentele, Walter Hömberg, Manfred Rühl, Siegfried Weischenberg und Lutz Hachmeister (alle fünf in einem Theorie-Block), Klaus Schönbach (Medienwirkungsforschung), Heinz Pürer (Mediensysteme), Manfred Knoche (Medienökonomie), Peter Szyszka (PR), Winfried Schulz, Beate Schneider, Barbara Mettler-Meibom, Barbara Baerns und Renate Damm (Medienrecht), Justiziarin beim Springer-Verlag. Ich habe die Akten gesehen und weiß daher, welcher Aufwand mit diesem Programm verbunden gewesen ist und dass nicht jeder Gast besonders pflegeleicht war.
Für Karl Friedrich Reimers, der im April 1991 als Gründungsdekan für die Leipziger Kommunikations- und Medienwissenschaft aus München kam, war Hans Poerschke der wichtigste Ansprechpartner. Im Mai 1991 skizzierte er selbst ›Gedanken für die Gründungskommission‹ und sah dabei drei Arbeitsfelder vor, die Tradition, geografische Position und Leipziger Stärken bündelten: Kommunikationstheorie, Theoriegeschichte sowie Medien in Osteuropa.iv Wie die vielen anderen Papiere, die seit dem Herbst 1989 in Kommissionen und Initiativgruppen entstanden waren, blieb diese Vision Makulatur.v Reimers hatte ein Fünf-Säulen-Modell in der Tasche, das für die westdeutsche Publizistik- und Kommunikationswissenschaft revolutionär gewesen sein mag,vi aber die Geschichte des Standorts und die Fähigkeiten des Personals genauso ignorierte wie das, was die Einheimischen sich in den anderthalb Jahren seit dem Honecker-Rücktritt erarbeitet haben.
Mit den Inhalten sind auch die Professoren aus der Universität vertrieben worden – selbst die, die wie Hans Poerschke von uns Studenten unterstützt wurden und sich der Evaluierung stellten. Ich lasse ihn das am besten selbst erzählen, aufgezeichnet im November 2019 im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig, wo Poerschke bei der Jahrestagung des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft