Das Prinzip der Parteiliteratur. Hans Poerschke

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Das Prinzip der Parteiliteratur - Hans Poerschke

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intendierte und verwirklichte Struktur der Partei, die Verteilung der Rechte und Pflichten und die Arbeitsteilung in ihr eröffneten oder versperrten, kann sich uns die wirkliche Bedeutung zum Beispiel des Satzes erschließen, dass der literarische Teil der Parteiarbeit »von dem ganzen politisch bewussten Vortrupp der ganzen Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird«. Dazu war es erforderlich, im Licht gewonnener Erfahrung das aus Lenins Werk kritisch neu zu lesen, worauf wir uns auch einst gestützt haben, zugleich aber tiefer zu graben, Quellen zu erschließen, die gewiss nicht unbekannt waren, aber von mir unbeachtet geblieben sind.

      Zweitens: Lenins Artikel ist – wie die gesamte damalige Entwicklung der russischen sozialistischen Bewegung – nur im Kontext, als Bestandteil des Kampfes zwischen den beiden Strömungen der russischen Sozialdemokratie zu verstehen. Das um so mehr, als er, wie wohl die meisten seiner publizistischen Arbeiten nicht nur aus dieser Zeit, eine Kampfschrift gegen die Menschewiki ist. Lenin setzte in ihm die Polemik fort, die er vor allem in seiner Arbeit Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück geführt hatte. In diesem Sinne erwartete er als Reaktion auf sein Konzept das Geschrei »hysterischer Intellektueller« als »Ausdruck von bürgerlich-intellektuellem Individualismus« und forderte er eine Presse »frei nicht nur von der Polizei, sondern auch vom Kapital und vom Karrierismus, ja noch mehr, frei auch vom bürgerlichanarchistischen Individualismus«; dies ließ ihn seinem ungenannten Kontrahenten »das volle Recht einräumen, zu schreien, zu lügen und zu schreiben, was dir behagt«.17

      Diese Form der Auseinandersetzung erschien mir seinerzeit wohl als zugespitzt, aber als durchaus berechtigt, ja, als selbstverständlich und nacheifernswert. Schließlich galt allgemein als evident, dass der revolutionäre Kampf der Arbeiterklasse und der Aufbau des Sozialismus mit den von Lenin angegriffenen Eigenschaften unvereinbar sei. Das freilich verstellte den Blick dafür, dass außer dem, was Lenin zu polemischen Zwecken aufgreift, nichts Genaues darüber mitgeteilt wird, was eigentlich der Inhalt und der Sinn des »Geschreis hysterischer Intellektueller« über »Rädchen und Schräubchen« war. Diese Situation hat sich nach Lenin nicht verändert. Seine polemischen Argumente wurden endlos wiederholt, dem Stil seiner Polemik wurde nachgeeifert. In der offiziellen Geschichtsschreibung der KPdSU, insbesondere in Stalins Kurzem Lehrgang, wurden die politischen Vorstellungen der Menschewiki als derart notorisch schädlich, feindlich, unhaltbar, ja, dumm gebrandmarkt, dass man sich nur wundern kann, warum sie jemals Anhänger um sich scharen konnten. Für Kunizyn, den sowjetischen Autor eines lange Zeit als Standardwerk geltenden Buchs über Lenins Auffassung von Parteilichkeit der Presse und Pressefreiheit, waren sie Leute, die nicht von der Angewohnheit lassen können, »hier wie dort« zu publizieren, die Individualismus und Anarchismus ins Parteileben hineintragen und die das Recht beanspruchen, ihre subjektiven Ansichten gemäß einer Laune, aus dem Wunsch, mit dem Publikum zu kokettieren oder im Streben nach billiger Popularität zu vertreten.18 Auch wir haben den Menschewiki pauschal Opportunismus in der Organisationsfrage in Gestalt einer »anarchistischen, individualistischen Konzeption« unterstellt.19 Zur pauschalen politischen und moralischen Diskreditierung kommt hinzu, dass überwiegend bewusst und sorgfältig vermieden wurde, auf den konkreten Inhalt des Streits zwischen Bolschewiki und Menschewiki detailliert einzugehen, dass insgesamt die Gedankengänge der Kontrahenten Lenins aus dem wissenschaftlichen Diskurs und aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis verdrängt wurden. Was haben sie denn tatsächlich gesagt? Welches waren ihre Argumente in der Auseinandersetzung mit Lenins Organisationskonzept und der Art und Weise seiner Durchsetzung? Welche anderen Vorstellungen haben sie vertreten? Wir können die Probleme, um deren Lösung es damals ging, und wir können die reale Bedeutung, die Lenins Konzept für die Entwicklung der Partei und ihrer Presse haben konnte, nicht erfassen, ohne uns mit dem Standpunkt der Menschewiki vertraut zu machen, die sich der Situation unter einem anderen Blickwinkel näherten und folgerichtig anderes sahen.

      Welcher Blickwinkel aber war das? Was ich dazu gefunden habe, lässt wenig von Lenins Behauptung übrig, hier seien kleinbürgerliche Anarchisten, hysterische Intellektuelle, notorische Opportunisten am Werke gewesen. Viel angemessener erscheint mir die aktuelle Einschätzung russischer Historiker, dass sich in Bolschewiki und Menschewiki auf unterschiedlichen Traditionen der revolutionären Bewegung, verschiedenen Interpretationen der marxschen Lehre fußende marxistische Fraktionen, später selbständige Parteien, gegenüber standen.

      »Während sich […] im Westen die Marxisten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Revolutionäre und Sozialreformisten teilten, geschah in Russland, wo alle politischen Teilungen im Vergleich zu denen Europas und Amerikas beträchtlich weiter links verliefen, die Spaltung zwischen den Revolutionären selbst, die radikaleren Anhänger des Sturzes der bestehenden Ordnung ihren gemäßigteren und vorsichtigeren Genossen gegenüberstellend, die jedoch die Notwendigkeit einer russischen Revolution nicht verneinten.«20

      Gegenüber einseitiger Betonung und für die Menschewiki herabsetzender Interpretation klassenmäßiger Unterschiede wird heute beachtet, »dass Bolschewiki und Menschewiki sich nicht vor allem nach ihrer sozialen Zusammensetzung und ihrem Endziel unterschieden, sondern nach der politischen Kultur und dem Typ des Verhaltens ihrer Mitglieder: einem radikal-konfrontativen bei den ersten und einem zur Suche nach Kompromiss und Konsens strebenden bei den zweiten«.21 Ein wesentlicher Unterschied wird darin gesehen, dass Lenin ein respektvolles, aber freies, kreatives Verhältnis zum marxschen Erbe vertrat, dass er und seine Anhänger Träger neuer, radikalerer und der russischen revolutionären Tradition des 19. Jahrhunderts nahestehender Ideen waren, während die Menschewiki, mit einem dogmatischeren Verhältnis zum Marxismus, »von Anfang an zu den organisatorischen Normen und der Taktik tendierten, die in der II. Internationale galten, obgleich sie in gewissem Maße auch die nationale Spezifik Russlands berücksichtigten«.22

      Wir haben es also mit der Konfrontation von Sichtweisen zu tun, die auf dem Boden der sozialistischen Bewegung entstanden und, die eine wie die andere, um der proletarischen Sache willen verfochten worden sind, und nicht mit der Abwehr der Angriffe verkappter Klassenfeinde durch die Bolschewiki. Das macht die Sache freilich nicht einfacher. Die beiden Strömungen in der russischen Sozialdemokratie bildeten keine Ausnahme »in der politischen Arena Russlands, wo in den Wechselbeziehungen zwischen Partnern stets Konfrontation und Kampf überwogen, und nicht die Suche nach Kompromiss und Übereinstimmung«.23 Die folgende Feststellung Tjutjukins ist also wohl zu beachten:

      »Nach dem II. Parteitag der SDAPR gestalteten sich die Beziehungen zwischen Bolschewiki und Menschewiki quälend schwierig. Aus der Sphäre der Organisationsfragen sprangen die Meinungsverschiedenheiten auf Probleme der Taktik und Strategie der Partei über, und später kam es zum völligen Unverständnis füreinander und zu gegenseitiger Ablehnung: Sagten die Bolschewiki ›ja‹, antworteten die Menschewiki automatisch mit einem unverzüglichen ›Nein‹ und umgekehrt. Zugleich blieb bei den Mitgliedern beider Fraktionen das Bewusstsein gemeinsamer programmatischer Prinzipien und das Streben nach Einheit des Handelns angesichts des gemeinsamen Feindes, der Selbstherrschaft und der Bourgeoisie, erhalten.«24

      Auch in den Beiträgen der Menschewiki zum langandauernden und heftigen Streit sind polemische Zu- und Überspitzung oft mit Händen zu greifen. Sie haben eine Verständigung ganz gewiss nicht erleichtert, aber im Kern ging es um Einwände und Probleme, die sich nicht selten als schicksalsbestimmend für die weitere Entwicklung erweisen sollten. Dass die Vorstellung der Menschewiki von einem demokratischen Sozialismus unter den russischen Bedingungen nicht realisierbar war, dass sie ihr – niemals einheitliches – Konzept von Organisation und politischer Taktik nicht in tragfähige gesellschaftliche Veränderungen umsetzen konnten und sich in entscheidenden Augenblicken der russischen Geschichte als nicht handlungsfähig erwiesen, haben jüngere Forschungen russischer Historiker deutlich gemacht.25 Das aber – dies müssen wir uns entgegen früheren Gewohnheiten vor Augen halten – entwertet ihre in der damaligen Diskussion vorgebrachten Argumente nicht. Der Kritiker verliert sein Recht nicht dadurch, dass auch er das vorliegende Problem letztlich nicht lösen kann, und schon gar nicht dadurch, dass er Auffassungen vertritt, die dem Kritisierten nicht genehm sind. Wir sind heute in der Lage, dass wir die Geschichte im Nachhinein nach der Berechtigung und dem Gewicht der Argumente

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