Dr. Norden Box 10 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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»Sie sind die Beste!«, lächelte Dési. »Und es macht gar nichts, dass Sie schrumpfen. Kleinsein hat viele Vorteile. Ich spreche aus Erfahrung.« Sie winkte den beiden Assistentinnen zu und machte sich auf den Weg ins Wartezimmer.
Wendy sah ihr nach.
»Das war jetzt nicht unbedingt das, was ich hören wollte«, gestand sie.
»Mach dir nichts draus. So ist die Jugend von heute eben. Schonungslos offen«, amüsierte sich Janine sichtlich und nahm das Blatt entgegen, das Urs inzwischen ausgefüllt hatte. Sie legte es beiseite und stand auf, um den jungen Mann in ein leer stehendes Untersuchungszimmer zu bringen.
»So, hier können Sie Platz nehmen. Der Doktor hat gleich Zeit für Sie. Soll ich Ihnen ein paar Zeitschriften bringen?«, fragte sie und rückte den Stuhl zurecht, der in der Ecke bereitstand.
»Nein, danke. Alles bestens.« Urs hustete und hielt die Hand vor den Mund. »Ich bin so dankbar, dass Dr. Norden mich behandelt«, versicherte er.
»Das sagen Sie jetzt! Aber warten Sie, bis er erst mal loslegt. Dann denken Sie möglicherweise anders darüber«, scherzte Janine gut gelaunt, als sie die Sorgen in den Augen des Patienten bemerkte. »Oh, tut mir leid. Das war nur ein dummer Witz. Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen.«
Urs zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Er war im Begriff, die Geduld zu verlieren, und wusste doch, dass das unmöglich war, wenn er nicht alles verderben wollte.
»Ich hab doch keine Angst«, versicherte er deshalb im Brustton der Überzeugung und hoffte, dass die Assistentin keine Gedanken lesen konnte.
Seine Hoffnung erfüllte sich.
»Sehen Sie, das wusste ich!« Janine zwinkerte ihm zu, ehe sie ihn allein ließ.
*
Zuerst setzte sich Urs und überdachte seinen Plan, überlegte, welche seiner Argumente imstande wären, Dr. Norden von der Notwendigkeit des Hustenmittels zu überzeugen. Dieses Mittel war bekannt für seine berauschende Wirkung und würde ihm über den Tag helfen, bis er am Abend ins Gefängnis zurückkehren musste. Doch allein der Gedanke daran machte Urs nervös, und er hob den Blick und ließ ihn durch den Raum wandern. Er betrachtete das Bild an der Wand – es stellte eine Berglandschaft im Nebel dar – und den Schrank, der daneben stand. Eine Weile fixierte er ihn, versuchte sich vorzustellen, was dahinter wohl verborgen war. Doch ein paar Minuten später genügte die Vorstellung nicht mehr. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, stand Urs plötzlich auf und ging wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen auf den Schrank zu.
Er blieb direkt vor dem Möbel stehen und haderte mit sich.
»Vielleicht … nein … oder doch?« Seine Hand zitterte, als er sie nach dem Knauf ausstreckte. Er drehte ihn herum und die Tür öffnete sich, gab den Blick frei auf Verbandmaterial, Scheren, Pinzetten und andere Gerätschaften. Daneben standen zahllose Medikamentenschachteln in allen Größen und Farben. Urs war wie vom Donner gerührt. Damit hatte er nicht gerechnet. »Tabletten«, hauchte er und war plötzlich den Tränen nahe. Dieser Anblick erinnerte ihn wieder an die Tage und Nächte im Drogenrausch, der ihn immer noch und immer wieder in seine gnädigen Arme schloss. Mit den Drogen war das Leben leichter. Nicht so hart und grell, sondern gedämpft und weich und warm. Mit einem Schlag war alles andere vergessen. Urs wusste nicht mehr, weswegen er gekommen war. Wie von Sinnen starrte er auf den Schatz, der sich vor seinen Augen auftat. »Ein ganzer Schrank voller Tabletten«, murmelte er. »Da ist doch bestimmt was für den kleinen Urs dabei! Ich brauch gar kein Rezept. Ich muss nur zugreifen.« Es war ein kleiner Teufel auf seiner Schulter, der ihm diese Worte zuflüsterte. Urs streckte die Hände aus. Doch kurz bevor seine Fingerspitzen eine der Schachteln berührte, zog er sie wieder zurück. »Lass es!«, kreischte eine andere Stimme in seinem Ohr. »Wenn du das tust, ist alles kaputt, was du erreicht hast.«
»Pah, was hat er denn erreicht?«, lachte der Teufel. »Er hat das Paradies gegen eine Stelle als Schlosser getauscht.«
»Der Knast soll ein Paradies sein?«, widersprach der Engel auf der anderen Seite.
»Die Pillen, die sind das Paradies.« Wiederum war der Teufel nicht um eine Antwort verlegen. »Mit ihnen ist alles gut. Damit geht das Leben nicht nur drinnen, sondern auch draußen sorglos weiter. Also greif zu, Junge, greif zu, greif zu.«
Die Worte hallten in Urs’ Kopf. Zuerst wusste er nicht, auf wen er hören sollte. Doch die Stimme des Teufels wurde lauter und lauter, bis er nicht anders konnte und in den Schrank greifen musste. Zitternd hielt er eine Packung vor die Augen. Doch wie groß war seine Enttäuschung, als er nur ein Antibiotikum in Händen hielt. In diesem Augenblick war er nicht mehr Herr über sich selbst. Er ließ die Schachtel fallen, wo er stand, und nahm die nächste heraus und dann noch eine und noch eine, bis er schließlich mit beiden Händen den Schrank durchwühlte und voller Wut die Packungen durchs Zimmer warf. Erst als er eine Stimme hinter sich hörte, hielt er in seiner Raserei inne. Doch Urs drehte sich nicht sofort um. Einer inneren Stimme folgend, griff er nach einer Schere. Dann bewegte er sich nicht mehr.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Dési seinen Rücken an.
»Hör sofort auf damit! Du bist ja total durchgedreht!« Da Wendy und Janine beschäftigt waren, hatte sie sich angeboten, Urs zu ihrem Vater zu bringen. Doch mit dem, was sie jetzt zu sehen bekam, hatte sie nicht gerechnet.
In diesem Moment fuhr Urs herum. Mit der Schere in der hoch erhobenen Hand war er mit einem Satz bei Dési. Ehe sie begriff, was passierte, packte er sie am Arm, wirbelte sie herum und verdrehte ihr die Hand, dass sie vor Schmerz schrie.
»Halt’s Maul!«, zischte er. »Sonst mach ich dich einen Kopf kürzer.« Er umklammerte sie mit einem Arm, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnte, und drückte ihr die Klinge der Schere an den Hals.
Als Dési das kalte Metall spürte, schluckte sie. Tränen schossen ihr in die Augen, doch kein Laut kam mehr über ihre Lippen.
*
»Sie können jetzt nicht zum Chef!« Andrea Sanders Stimme war völlig ruhig. Die Assistentin der Klinikleitung saß hinter ihrem Schreibtisch und sah ihren Besucher an. »Dr. Cornelius hat eine Besprechung.«
»Dann will ich sofort die Nummer von Frau Behnisch haben«, verlangte Volker Lammers bebend vor Zorn. »Das ist mir eh lieber, als mich mit diesen Möchtegern-Vorgesetzten zu unterhalten.«
Um ihre Missbilligung zum Ausdruck zu bringen, zog Andrea Sander eine Augenbraue hoch.
»Frau Doktor Behnisch ist vorübergehend nicht erreichbar.« Besondere Betonung legte sie auf den Titel ihrer Chefin, den Volker Lammers unter den Tisch hatte fallen lassen. »Und allein, dass sie die Geschäfte vertrauensvoll in Mario Cornelius’ Hände gelegt hat, sollte Beweis genug für seine Kompetenzen sein.«
Dr. Lammers verstand, dass er sich mit seinen Mitteln bei Andrea Sander die Zähne ausbeißen würde. Deshalb atmete er ein paar Mal durch, änderte seine Strategie und setzte ein Lächeln auf.
»Also schön. Dann brauche ich bitte einen Termin bei Cornelius … entschuldigen Sie, Doktor Cornelius.« Er sah der Assistentin an, dass sie ihn am liebsten rausgeworfen hätte, und lächelte wie ein Engel.
Zähneknirschend beugte sich Andrea über den Terminkalender, als aus dem Büro Fußgetrappel, Stimmen und Lachen zu hören waren. Es war offensichtlich, dass sich die Runde auflöste, und tatsächlich öffnete