Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. Hermann Hesse

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Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - Hermann Hesse

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weiß nichts darüber,“ sagte ich schüchtern. „Es ist ein Vogel oder so was Ähnliches, es muß ganz alt sein. Das Haus soll früher einmal zum Kloster gehört haben.“

      „Das kann schon sein,“ nickte er. „Sieh dir’s einmal gut an! Solche Sachen sind oft ganz interessant. Ich glaube, daß es ein Sperber ist.“

      Wir gingen weiter, ich war sehr befangen. Plötzlich lachte Demian, als falle ihm etwas Lustiges ein.

      „Ja, ich habe ja da eurer Stunde beigewohnt,“ sagte er lebhaft. „Die Geschichte von Kain, der das Zeichen auf der Stirn trug, nicht wahr? Gefällt sie dir?“

      Nein, gefallen hatte mir selten irgend etwas von all dem, was wir lernen mußten. Ich wagte es aber nicht zu sagen, es war, als rede ein Erwachsener mit mir. Ich sagte, die Geschichte gefalle mir ganz gut.

      Demian klopfte mir auf die Schulter.

      „Du brauchst mir nichts vorzumachen, Lieber. Aber die Geschichte ist tatsächlich recht merkwürdig, ich glaube, sie ist viel merkwürdiger als die meisten andern, die im Unterricht vorkommen. Der Lehrer hat ja nicht viel darüber gesagt, nur so das Übliche über Gott und die Sünde und so weiter. Aber ich glaube —“ er unterbrach sich, lächelte und fragte: „Interessiert es dich aber?“

      „Ja, ich glaube also,“ fuhr er fort, „man kann diese Geschichte von Kain auch ganz anders auffassen. Die meisten Sachen, die man uns lehrt, sind gewiß ganz wahr und richtig, aber man kann sie alle auch anders ansehen, als die Lehrer es tun, und meistens haben sie dann einen viel besseren Sinn. Mit diesem Kain zum Beispiel und mit dem Zeichen auf seiner Stirn kann man doch nicht recht zufrieden sein, so wie er uns erklärt wird. Findest du nicht auch? Daß einer seinen Bruder im Streit totschlägt, kann ja gewiß passieren, und daß er nachher Angst kriegt und klein beigibt, ist auch möglich. Daß er aber für seine Feigheit extra mit einem Orden ausgezeichnet wird, der ihn schützt und allen andern Angst einjagt, ist doch recht sonderbar.“

      „Freilich,“ sagte ich interessiert: die Sache begann mich zu fesseln. „Aber wie soll man die Geschichte anders erklären?“

      Er schlug mir auf die Schulter.

      „Ganz einfach! Das, was vorhanden war und womit die Geschichte ihren Anfang genommen hat, war das Zeichen. Es war da ein Mann, der hatte etwas im Gesicht, was den andern Angst machte. Sie wagten nicht ihn anzurühren, er imponierte ihnen, er und seine Kinder. Vielleicht, oder sicher, war es aber nicht wirklich ein Zeichen auf der Stirn, so wie ein Poststempel, so grob geht es im Leben selten zu. Viel eher war es etwas kaum wahrnehmbares Unheimliches, ein wenig mehr Geist und Kühnheit im Blick, als die Leute gewohnt waren. Dieser Mann hatte Macht, vor diesem Mann scheute man sich. Er hatte ein ‚Zeichen‘. Man konnte das erklären, wie man wollte. Und ‚man‘ will immer das, was einem bequem ist und recht gibt. Man hatte Furcht vor den Kainskindern, sie hatten ein ‚Zeichen‘. Also erklärte man das Zeichen nicht als das, was es war, als eine Auszeichnung, sondern als das Gegenteil. Man sagte, die Kerls mit diesem Zeichen seien unheimlich, und das waren sie auch. Leute mit Mut und Charakter sind den anderen Leuten immer sehr unheimlich. Daß da ein Geschlecht von Furchtlosen und Unheimlichen herumlief, war sehr unbequem, und nun hängte man diesem Geschlecht einen Übernamen und eine Fabel an, um sich an ihm zu rächen, um sich für alle die ausgestandne Furcht ein bißchen schadlos zu halten. — Begreifst du?“

      „Ja — das heißt — dann wäre ja Kain also gar nicht böse gewesen? Und die ganze Geschichte in der Bibel wäre eigentlich gar nicht wahr?“

      „Ja und nein. So alte, uralte Geschichten sind immer wahr, aber sie sind nicht immer so aufgezeichnet und werden nicht immer so erklärt, wie es richtig wäre. Kurz, ich meine, der Kain war ein famoser Kerl, und bloß, weil man Angst vor ihm hatte, hängte man ihm diese Geschichte an. Die Geschichte war einfach ein Gerücht, so etwas, was die Leute herumschwätzen, und es war insofern ganz wahr, als Kain und seine Kinder ja wirklich eine Art ‚Zeichen‘ trugen und anders waren als die meisten Leute.“

      Ich war sehr erstaunt.

      „Und dann glaubst du, daß auch das mit dem Totschlag gar nicht wahr ist?“ fragte ich ergriffen.

       „O doch! Sicher ist das wahr. Der Starke hatte einen Schwachen erschlagen. Ob es wirklich sein Bruder war, daran kann man ja zweifeln. Es ist nicht wichtig, schließlich sind alle Menschen Brüder. Also ein Starker hat einen Schwachen totgeschlagen. Vielleicht war es eine Heldentat, vielleicht auch nicht. Jedenfalls aber waren die andern Schwachen jetzt voller Angst, sie beklagten sich sehr, und wenn man sie fragte: ‚Warum schlaget ihr ihn nicht einfach auch tot?‘ dann sagten sie nicht: ‚Weil wir Feiglinge sind,‘ sondern sie sagten: ‚Man kann nicht. Er hat ein Zeichen. Gott hat ihn gezeichnet!‘ Etwa so muß der Schwindel entstanden sein. — Na, ich halte dich auf. Adieu denn!“

      Er bog in die Altgasse ein und ließ mich allein, verwunderter als ich je gewesen war. Kaum war er weg, so erschien mir alles, was er gesagt hatte, ganz unglaublich! Kain ein edler Mensch, Abel ein Feigling! Das Kainszeichen eine Auszeichnung! Es war absurd, es war gotteslästerlich und ruchlos. Wo blieb dann der liebe Gott? Hatte der nicht Abels Opfer angenommen, hatte der nicht Abel lieb? — Nein, dummes Zeug! Und ich vermutete, Demian habe sich über mich lustig machen und mich aufs Glatteis locken wollen. Ein verflucht gescheiter Kerl war er ja, und reden konnte er, aber so — nein —

      Immerhin hatte ich noch niemals über irgendeine biblische oder andere Geschichte so viel nachgedacht. Und hatte seit langem noch niemals den Franz Kromer so völlig vergessen, stundenlang, einen ganzen Abend lang. Ich las zu Hause die Geschichte noch einmal durch, wie sie in der Bibel stand, sie war kurz und deutlich, und es war ganz verrückt, da nach einer besonderen, geheimen Deutung zu suchen. Da könnte jeder Totschläger sich für Gottes Liebling erklären! Nein, es war Unsinn. Nett war bloß die Art, wie Demian solche Sachen sagen konnte, so leicht und hübsch, wie wenn alles selbstverständlich wäre, und mit diesen Augen dazu!

      Etwas freilich war ja bei mir selbst nicht in Ordnung, war sogar sehr in Unordnung. Ich hatte in einer lichten und sauberen Welt gelebt, ich war selber eine Art von Abel gewesen, und jetzt stak ich so tief im „andern“, war so sehr gefallen und gesunken, und doch konnte ich im Grunde nicht so sehr viel dafür! Wie war es nun damit? Ja, und jetzt blitzte eine Erinnerung in mir herauf, die mir für einen Augenblick fast den Atem nahm. An jenem üblen Abend, wo mein jetziges Elend angefangen hatte, da war das mit meinem Vater gewesen, da hatte ich, einen Augenblick lang, ihn und seine lichte Welt und Weisheit auf einmal wie durchschaut und verachtet! Ja, da hatte ich selber, der ich Kain war und das Zeichen trug, mir eingebildet, dies Zeichen sei keine Schande, es sei eine Auszeichnung und ich stehe durch meine Bosheit und mein Unglück höher als mein Vater, höher als die Guten und Frommen.

      Nicht in dieser Form des klaren Gedankens war es, daß ich die Sache damals erlebte, aber alles dies war darin enthalten, es war nur ein Aufflammen von Gefühlen, von seltsamen Regungen, welche weh taten und mich doch mit Stolz erfüllten.

      Wenn ich mich besann — wie sonderbar hatte Demian von den Furchtlosen und den Feigen gesprochen! Wie seltsam hatte er das Zeichen auf Kains Stirne gedeutet! Wie hatte sein Auge, sein merkwürdiges Auge eines Erwachsenen, dabei wunderlich geleuchtet! Und es schoß mir unklar durch den Kopf: — ist nicht er selber, dieser Demian, so eine Art Kain? Warum verteidigt er ihn, wenn er sich nicht ihm ähnlich fühlt? Warum hat er diese Macht im Blick? Warum spricht er so höhnisch von den „andern“, von den Furchtsamen, welche doch eigentlich die Frommen und Gott Wohlgefälligen sind?

      Ich kam mit diesen Gedanken zu keinem Ende. Es war ein Stein in den Brunnen gefallen, und der Brunnen war meine junge Seele. Und für eine lange, sehr lange Zeit war diese Sache mit Kain, dem Totschlag und dem Zeichen der Punkt, bei dem meine Versuche zu Erkenntnis,

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