Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. Hermann Hesse
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Inzwischen ging meine Sache mit Franz Kromer ihren zwangsläufigen Weg weiter. Ich kam nicht von ihm los, denn wenn er mich auch zwischenein tagelang in Ruhe ließ, war ich doch an ihn gebunden. In meinen Träumen lebte er wie mein Schatten mit, und was er mir nicht in der Wirklichkeit antat, das ließ meine Phantasie ihn in diesen Träumen tun, in denen ich ganz und gar sein Sklave wurde. Ich lebte in diesen Träumen — ein starker Träumer war ich immer — mehr als im Wirklichen, ich verlor Kraft und Leben an diese Schatten. Unter anderem träumte ich oft, daß Kromer mich mißhandelte, daß er mich anspie und auf mir kniete, und, was schlimmer war, daß er mich zu schweren Verbrechen verführte — vielmehr nicht verführte, sondern einfach durch seinen mächtigen Einfluß zwang. Der furchtbarste dieser Träume, aus dem ich halb wahnsinnig erwachte, enthielt einen Mordanfall auf meinen Vater. Kromer schliff ein Messer und gab es mir in die Hand, wir standen hinter den Bäumen einer Allee und lauerten auf jemand, ich wußte nicht auf wen; aber als jemand daherkam und Kromer mir durch einen Druck auf meinen Arm sagte, der sei es, den ich erstechen müsse, da war es mein Vater. Da erwachte ich.
Über diesen Dingen dachte ich zwar wohl noch an Kain und Abel, aber wenig mehr an Demian. Als er mir zuerst wieder nahetrat, war es merkwürdigerweise auch in einem Traume. Nämlich ich träumte wieder von Mißhandlungen und Vergewaltigung, die ich erlitt, aber statt Kromer war es diesmal Demian, der auf mir kniete. Und — das war ganz neu und machte mir tiefen Eindruck — alles, was ich von Kromer unter Qual und Widerstreben erlitten hatte, das erlitt ich von Demian gerne und mit einem Gefühl, das ebensoviel Wonne wie Angst enthielt. Diesen Traum hatte ich zweimal, dann trat Kromer wieder an seine Stelle.
Was ich in diesen Träumen erlebte und was in der Wirklichkeit, das kann ich längst nicht mehr genau trennen. Jedenfalls aber nahm mein schlimmes Verhältnis zu Kromer seinen Lauf, und war nicht etwa zu Ende, als ich dem Knaben endlich die geschuldete Summe aus lauter kleinen Diebstählen abbezahlt hatte. Nein, jetzt wußte er von diesen Diebstählen, denn er fragte mich immer, woher das Geld komme, und ich war mehr in seiner Hand als jemals. Häufig drohte er, meinem Vater alles zu sagen, und dann war meine Angst kaum so groß wie das tiefe Bedauern darüber, daß ich das nicht von Anfang an selber getan hatte. Indessen, und so elend ich war, bereute ich doch nicht alles, wenigstens nicht immer, und glaubte zuweilen zu fühlen, daß alles so sein müsse. Ein Verhängnis war über mir, und es war unnütz, es durchbrechen zu wollen.
Vermutlich litten meine Eltern unter diesem Zustande nicht wenig. Es war ein fremder Geist über mich gekommen, ich paßte nicht mehr in unsre Gemeinschaft, die so innig gewesen war, und nach der mich oft ein rasendes Heimweh wie nach verlorenen Paradiesen überfiel. Ich wurde, namentlich von der Mutter, mehr wie ein Kranker behandelt als wie ein Bösewicht, aber wie es eigentlich stand, konnte ich am besten aus dem Benehmen meiner beiden Schwestern sehen. In diesem Benehmen, das sehr schonend war und mich dennoch unendlich beelendete, gab sich deutlich kund, daß ich eine Art von Besessenem war, der für seinen Zustand mehr zu beklagen als zu schelten war, in dem aber doch eben das Böse seinen Sitz genommen hatte. Ich fühlte, daß man für mich betete, anders als sonst, und fühlte die Vergeblichkeit dieses Betens. Die Sehnsucht nach Erleichterung, das Verlangen nach einer richtigen Beichte spürte ich oft brennend, und empfand doch auch voraus, daß ich weder Vater noch Mutter alles richtig würde sagen und erklären können. Ich wußte, man würde es freundlich aufnehmen, man würde mich sehr schonen, ja bedauern, aber nicht ganz verstehen, und das Ganze würde als eine Art Entgleisung angesehen werden, während es doch Schicksal war.
Ich weiß, daß manche nicht glauben werden, daß ein Kind von noch nicht elf Jahren so zu fühlen vermöge. Diesen erzähle ich meine Angelegenheit nicht. Ich erzähle sie denen, welche den Menschen besser kennen. Der Erwachsene, der gelernt hat, einen Teil seiner Gefühle in Gedanken zu verwandeln, vermißt diese Gedanken beim Kinde, und meint nun, auch die Erlebnisse seien nicht da. Ich aber habe nur selten in meinem Leben so tief erlebt und gelitten wie damals.
Einst war ein Regentag, ich war von meinem Peiniger auf den Burgplatz bestellt worden, da stand ich nun und wartete und wühlte mit den Füßen im nassen Kastanienlaub, das noch immerzu von den schwarzen triefenden Bäumen fiel. Geld hatte ich nicht, aber ich hatte zwei Stücke Kuchen beiseite gebracht und trug sie bei mir, um dem Kromer wenigstens etwas geben zu können. Ich war es längst gewohnt, so irgendwo in einem Winkel zu stehen und auf ihn zu warten, oft sehr lange Zeit, und ich nahm es hin, wie der Mensch das Unabänderliche hinnimmt.
Endlich kam Kromer. Er blieb heute nicht lang. Er gab mir ein paar Knüffe in die Rippen, lachte, nahm mir den Kuchen ab, bot mir sogar eine feuchte Zigarette an, die ich jedoch nicht nahm, und war freundlicher als gewöhnlich.
„Ja,“ sagte er beim Weggehen, „daß ich’s nicht vergesse — du könntest das nächstemal deine Schwester mitbringen, die ältere. Wie heißt sie eigentlich?“
Ich verstand gar nicht, gab auch keine Antwort. Ich sah ihn nur verwundert an.
„Kapierst du nicht? Deine Schwester sollst du mitbringen.“
„Ja, Kromer, aber das geht nicht. Das darf ich nicht, und sie käme auch gar nicht mit.“
Ich war darauf gefaßt, daß das nur wieder eine Schikane und ein Vorwand sei. So machte er es oft, verlangte irgend etwas Unmögliches, setzte mich in Schrecken, demütigte mich, und ließ dann allmählich mit sich handeln. Ich mußte mich dann mit etwas Geld oder anderen Gaben loskaufen.
Diesmal war er ganz anders. Er wurde auf meine Weigerung hin fast gar nicht böse.
„Na ja,“ sagte er obenhin, „du wirst dir das überlegen. Ich möchte mit deiner Schwester bekannt werden. Es wird schon einmal gehen. Du nimmst sie einfach auf einen Spaziergang mit, und dann komme ich dazu. Morgen pfeife ich dir an, dann sprechen wir noch einmal drüber.“
Als er fort war, dämmerte mir plötzlich etwas vom Sinn seines Begehrens auf. Ich war noch völlig Kind, aber ich wußte gerüchtweise davon, daß Knaben und Mädchen, wenn sie etwas älter waren, irgendwelche geheimnisvolle, anstößige und verbotene Dinge miteinander treiben konnten. Und nun sollte ich also — es wurde mir ganz plötzlich klar, wie ungeheuerlich es war! Mein Entschluß, das nie zu tun, stand sofort fest. Aber was dann geschehen und wie Kromer sich an mir rächen würde, daran wagte ich kaum zu denken. Es begann eine neue Marter für mich, es war noch nicht genug.
Trostlos ging ich über den leeren Platz, die Hände in den Taschen. Neue Qualen, neue Sklaverei!
Da rief mich eine frische, tiefe Stimme an. Ich erschrak und fing zu laufen an. Jemand lief mir nach, eine Hand faßte mich sanft von hinten. Es war Max Demian.
Ich gab mich gefangen.
„Du