heute Rue du Mont-Tabor im vierten Stock. Die arme Malvina besitzt nichts, sie gibt Klavierstunden, um ihrem Schwager nicht zur Last zu fallen. Schwarz, groß, dürr und welk, gleicht sie einer wiedererwachten Mumie, die hilflos durch Paris irrt. Im Jahre 1830 verlor Beaudenord seine Stellung, und seine Frau schenkte ihm ein viertes Kind. Acht Familienmitglieder und zwei Dienstboten (Wirth und seine Frau)! Geld: Achttausend Livres Rente. Die Gruben geben heute so beträchtliche Dividenden, daß die Aktie zu tausend Franken tausend Franken Rente bringt. Rastignac und Frau von Nucingen haben die von Godefroid und der Baronin verkauften Aktien erworben. Nucingen wurde von der Julirevolution zum Pair von Frankreich und Großoffizier der Ehrenlegion ernannt. Obgleich er nach 1830 nicht liquidiert hat, besitzt er, wie man sagt, ein Vermögen von sechzehn bis achtzehn Millionen. Da er die Juliereignisse vorausgesehen, hatte er alle seine Werte verkauft und wiedergekauft, als die drei Prozent auf fünfundvierzig standen; er brachte denen im Schloß den Glauben bei, es geschehe aus Ergebenheit, und nahm währenddessen dem großen Hansnarren Philipp Brideau drei Millionen ab! Unlängst gewahrte unser Baron, als er die Rue de Rivoli hinunterschritt, um sich ins Bois de Boulogne zu begeben, unter den Arkaden die Baronin d’Aldrigger. Die kleine Alte trug ein rosenverziertes Häubchen, ein geblümtes Kleid, eine Mantille, kurz, sie war mehr als je die kokette Sennerin, denn sie konnte die Ursachen ihres Elends ebensowenig begreifen wie ehedem die Ursachen ihrer Wohlhabenheit. Sie lehnte sich auf die arme Malvina, die – ein Muster heldenmütiger Entsagung – die alte Mutter zu sein schien, während die Baronin das junge Mädchen spielte; und Wirth folgte ihnen mit dem Regenschirm. ›Ta sehen Se Laite,‹ sagte der Baron zu Herrn Cointet, einem Minister, mit dem er den Spaziergang machte, ›denen es mir nicht keklickt ist ain Vermegen ßu peschaffen. Der Zwischenfall ist tja wohl wieder peikelegt, keben Se doch dem armen Beaudenord wieder aine Anstellung.‹ Beaudenord wurde dank Nucingens Fürsprache wieder im Ministerium angestellt; und die d’Aldrigger preisen den treuen Freund, der noch heute die kleine Sennerin und ihre Töchter auf seine Bälle lädt. Keinem auf der ganzen Welt ist es möglich, darzutun, wie dieser Mann dreimal und ohne jede Gewaltsamkeit die wider seinen Willen durch ihn reich gewordene Menge hat bestehlen wollen. Keiner kann ihm einen Vorwurf machen. Wer da sagen wollte, das höhere Bankwesen sei oftmals eine Gurgelabschneiderei, beginge die empörendste Verleumdung. Wenn die Effekten steigen und fallen, wenn die Wertpapiere steigen und stürzen, so ist diese Ebbe und Flut eine Folge atmosphärischer Einflüsse, die mit dem Mond in Beziehung stehen, und selbst der große Arago7 könnte über dieses bedeutsame Phänomen keine wissenschaftliche Theorie aufstellen. Lediglich eine finanzielle Lehre folgt aus dem Ganzen, eine Lehre, die ich noch nirgends aufgeschrieben fand …«
»Welche?«
»Der Schuldner ist stärker als der Gläubiger.«
»Oh,« sagte Blondet, »ich erblicke in dem Gesagten eine Paraphrase über einen Ausspruch Montesquieus, in dem er den ›Geist der Gesetze‹ zusammengefaßt hat.«
»Welchen?« fragte Finot. »Die Gesetze sind Spinnennetze, aus denen die großen Fliegen sich herausarbeiten, in denen die kleinen aber hängen bleiben.«
»Wo möchtest du denn hingelangen?« fragte Finot Blondet. »Zur absoluten Regierung, der einzigen, die der Vergewaltigung des Gesetzes durch den Geist Einhalt tun kann. Ja, die Willkür rettet das Volk, indem sie der Gerechtigkeit zu Hilfe kommt. Der König, der den betrügerischen Bankrotteur begnadigen kann, gibt dem gerupften Opfer nichts zurück. Die Gesetzmäßigkeit tötet die Gesellschaft von heute.«
»Mach das mal den Wählern begreiflich!« sagte Bixiou. »Es gibt einen, der das übernommen hat.«
»Wer?«
»Die Zeit. Wie der Bischof von Leon gesagt hat: ›Wenn die Freiheit alt ist, so ist die Königswürde ewig‹; jedes Volk, das gesunden Geistes ist, wird unter dieser oder jener Form darauf zurückkommen.«
»Horch, es waren Leute nebenan,« sagte Finot, der uns hinausgehen hörte. »Es sind immer Leute nebenan!« erwiderte Bixiou, der wohl betrunken war.
1 Unter ›Hänschens Messer‹ wird in einer französischen Redensart eine Sache verstanden, die allmählich solche Veränderungen erlitten hat, daß sie nur noch dem Namen nach die alte ist. <<<
2 Wie ›Tigre‹ (Tiger) Bezeichnung für Reitknecht, so ›Tigresse‹ (Tigerin) Bezeichnung für ein Weib von Katzennatur. <<<
Ich habe schon immer gewünscht, eine einfache wahre Geschichte zu berichten, bei deren Erzählung ein junger Mensch und seine Geliebte von Schrecken ergriffen werden und sich einer an das Herz des andern flüchten würde, wie zwei Kinder sich aneinander drängen, wenn sie am Waldrande eine Schlange vor sich sehen. Auf die Gefahr hin, das Interesse an meiner Erzählung zu verringern oder für affektiert zu gelten, beginne ich mit der Verkündung des Endes meiner Geschichte. In diesem beinahe alltäglichen Drama habe ich eine Rolle gespielt; wenn es den Leser nicht fesselt, so trifft die Schuld entweder mich, oder der Fehler liegt daran, daß es sich in Wirklichkeit so ereignet hat. Die Hälfte dichterischer Begabung beruht ja darauf, daß man aus dem Wirklichen das auswählt, was für die poetische Darstellung geeignet ist.