Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
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»Herr Graf, ich möchte mit Ihnen allein sprechen«, sagte ich mit geheimnisvoller Miene, während ich einige Schritte zurücktrat.
Er folgte mir. Juliette ließ uns allein und entfernte sich, unbekümmert wie eine Frau, die sicher ist, die Geheimnisse ihres Mannes zu erfahren, sobald sie sie zu wissen wünscht. Ich erzählte dem Grafen kurz den Tod meines Reisebegleiters. Der Eindruck dieser Nachricht bewies mir, daß er eine warme Zuneigung zu seinem jungen Mitarbeiter hatte, und diese Entdeckung gab mir den Mut zu meiner Antwort in dem Zwiegespräch, das nun zwischen uns beiden sich entspann.
»Meine Frau wird in Verzweiflung sein,« rief er, »und ich werde alle Vorsicht gebrauchen müssen, wenn ich sie von diesem unglückseligen Ereignis in Kenntnis setze.«
»Wenn ich mich zuerst an Sie wandte, Herr Graf,« sagte ich, »so habe ich damit eine Pflicht erfüllt. Ich wollte mich dieses Auftrags, mit dem mich ein Unbekannter betraut hatte, nicht vor der Frau Gräfin entledigen, ohne Sie vorher davon benachrichtigt zu haben; aber er hat mir auch eine Art ehrenvoller letztwilliger Verfügung anvertraut, ein Geheimnis, das ich nicht berechtigt bin, preiszugeben. Nach der hohen Meinung, die ich von Ihrem Charakter gefaßt habe, denke ich, daß Sie sich nicht der Erfüllung eines solchen letzten Wunsches widersetzen werden. Es wird der Frau Gräfin überlassen bleiben, das Schweigegebot, das mir auferlegt worden ist, zu brechen.«
Da er so sein Loblied singen hörte, wiegte der Edelmann sehr erfreut seinen Kopf hin und her. Dann erwiderte er mit einem ziemlich gewundenen Kompliment und ließ mir schließlich freie Hand. Als wir uns zurückwandten, rief die Glocke gerade zum Diner; ich wurde eingeladen, daran teilzunehmen. Juliette prüfte verstohlen unsere Mienen, als sie uns ernst und schweigsam zurückkommen sah. Ganz erstaunt darüber, daß ihr Mann leichtfertig einen Vorwand suchte, um uns allein zu lassen, blieb sie stehen und warf mir einen Blick zu, wie er nur einer Frau zu Gebote steht. In diesem Blick lag die ganze berechtigte Neugierde einer Hausherrin, die einen Fremden bei sich empfängt, der wie vom Himmel herabgefallen erscheint; es lagen darin tausend Fragen über die seltsamen Gegensätze meiner Kleidung, meiner Jugend, meiner Physiognomie; dann die Geringschätzung einer angebeteten Geliebten, vor deren Augen kein anderer Mann Gnade findet, außer einem einzigen; es lag darin das unwillkürliche Gefühl von Angst, von Furcht und von der Verstimmung, einen unerwarteten Gast zu haben, während sie doch sicherlich alle Seligkeiten der Einsamkeit für ihre Liebe hatte aufsparen wollen. Ich verstand dieses beredte Schweigen und antwortete darauf mit einem trüben Lächeln voll Mitleid und Teilnahme. Einen Augenblick lang betrachtete ich sie in dem ganzen Glänze ihrer Schönheit, umstrahlt von der Heiterkeit des Tages, inmitten des schmalen von Blumen umrahmten Laubganges. Und während ich dieses Bild bewunderte, konnte ich einen Seufzer nicht unterdrücken.
»Ach, Frau Gräfin, ich habe eine sehr mühselige Reise gemacht, die ich … allein um Ihretwillen unternommen hatte.«
»Wie, mein Herr?!« sagte sie.
»Oh,« fuhr ich fort, »ich komme im Namen dessen, der Sie Juliette nennt.« Sie erbleichte. »Sie werden ihn heute nicht sehen können.«
»Ist er krank?« fragte sie leise.
»Ja«, erwiderte ich. »Aber um Himmelswillen verraten Sie sich nicht. Ich bin von ihm beauftragt worden, Ihnen gewisse, Sie betreffende Geheimnisse anzuvertrauen; ich bitte Sie, zu glauben, daß es niemals einen diskreteren und ergebeneren Boten gegeben hat.«
»Aber, was ist denn mit ihm?«
»Wenn er Sie nun nicht mehr lieben sollte?«
»Oh, das ist nicht möglich!« rief sie und ließ ein kleines Lächeln sehen, das nichts weniger als ungezwungen erschien.
Plötzlich überlief sie ein Schauder, sie warf mir einen milden schnellen Blick zu, errötete und sagte: »Lebt er?«
Großer Gott, was für eine schreckliche Frage! Ich war noch zu jung, um den Ton ertragen zu können, ich fand keine Antwort und sah die unglückselige Frau wie erstarrt an.
»Mein Herr, geben Sie mir Antwort!« rief sie.
»Ja, Frau Gräfin.«
»Ist es auch wahr? Oh, sagen Sie mir die Wahrheit, ich kann sie hören. Sagen Sie sie mir. Jeder Schmerz ist weniger peinigend als diese Ungewißheit.«
Ich antwortete mit zwei Tränen, die mir der seltsame Ton, mit dem ihre Worte gesprochen wurden, abpreßte.
Sie stützte sich an einen Baum und stieß einen schwachen Schrei aus.
»Gnädige Frau,« sagte ich, »hier kommt Ihr Herr Gemahl!«
»Habe ich denn einen Mann?«
Nach diesen Worten floh sie davon und verschwand.
»Das Essen wird ja kalt!« rief der Graf. »Kommen Sie, mein Herr.«
Daraufhin folgte ich dem Hausherrn, der mich in einen Speisesaal führte, wo die Mahlzeit mit all dem Luxus serviert war, an den uns die Pariser Tafeln gewöhnt haben. Es waren fünf Kuverts gedeckt: diejenigen der beiden Gatten und der kleinen Tochter, das »meinige«, das eigentlich das »seinige« sein sollte, und das letzte für einen Domherrn von Saint-Denis, der, nachdem er das Tischgebet gesprochen hatte, fragte: »Wo ist denn unsre liebe Gräfin?«
»Oh, sie wird schon kommen«, erwiderte der Graf, der uns eifrig die Suppe auftat und sich dann mit einer sehr reichlichen Portion davon versorgte, die er mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit vertilgte.
»Ach, mein lieber Neffe,« rief der Domherr, »wenn deine Frau zugegen wäre, würdest du vernünftiger sein.«
»Papa wird krank werden,« sagte das kleine Mädchen mit schlauer Miene.
Gleich