Dietmar Grieser für Kenner. Dietmar Grieser

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Dietmar Grieser für Kenner - Dietmar Grieser

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Frankreich besetzen, verschafft er sich ein US-Visum und geht nach Amerika ins Exil. Bedingung für seine Aufenthaltserlaubnis: Er muß, wann immer es das War Department in Washington von ihm verlangt, der US-Air Force zur Identifizierung von Luftaufnahmen zur Verfügung stehen, die von Beobachtungsflugzeugen der Alliierten über Nordafrika gemacht werden. Seit seiner Tätigkeit als Pilot auf der Strecke Toulouse-Casablanca-Dakar und als Flughafendirektor von Cap Juby gilt er als Experte, der sogar das eintönigste Wüstenpanorama »entschlüsseln« kann. Seine »Einsätze« in Washington erfolgen ohne Vormeldung, je nach momentanem Bedarf, und sehen vor, daß er jederzeit telefonisch erreichbar ist, auf der Stelle seine Arbeit (also das Schreiben) unterbricht und mit dem nächsterreichbaren Zug in die Hauptstadt fährt.

      Die erste Zeit in New York wohnt er im Hotel: im Ritz Carlton. Dann zieht er in ein Apartment am Südende des Central Park um. Einundzwanzigster Stock – das ist ganz nach seinem Geschmack: dem Himmel näher. Nur im Hochsommer wird die Hitze von New York unerträglich, und Frau Consuelo sieht sich nach einem Landsitz um. Das Haus in Westport, Connecticut, erweist sich als wenig glückliche Wahl: Man zieht wieder um. Und diesmal ist es das Richtige: Bevin House, Eaton’s Neck, Long Island. »Ich hatte mit einer Hütte gerechnet, und dann war’s der Palast von Versailles.«

      In diesem »Palast von Versailles«, der Saint-Exupérys Englischlehrerin, die Frankreich-Kennerin Adèle Breaux, an das Schloß seiner Kindheit erinnert: den elterlichen Besitz Saint Maurice de Remens, in dessen nächster Nähe sich dem Zwölfjährigen zum erstenmal sein Lebenstraum vom Fliegen erfüllt (an der Seite des Flugpioniers Védrines), ereignet sich jenes Wunder aus Imagination und Inspiration, dessen Resultat »Der kleine Prinz« ist. Es ist ein doppeltes Wunder: Der versierte Reporter (dessen Bücher allerdings immer auch stark reflektierende Züge aufweisen) meistert nicht nur auf Anhieb die Kunstform des Märchens, sondern entledigt sich auch mit Bravour des ebenso kühnen wie klugen Verlagsauftrags, selber die Illustrationen beizusteuern, obwohl dies absolut nicht sein Metier ist und Saint-Exupérys diesbezügliche Ausbildung sich auf den Zeichenunterricht im Gymnasium beschränkt.

      Gewiß, da gibt’s schon vorher, noch in den Frankreich- und Nordafrika-Jahren, die ersten flüchtigen Skizzen des kleinen Gesellen – auf Zettel und Speisekarten fetzt er sie hin, wenn er im Restaurant aufs Essen wartet oder im Fliegercamp auf seine Maschine. Es ist schon der gleiche Junge im overallartigen Dress, mit der blonden Mähne und mit vor Staunen weitaufgerissenen Augen – einmal auf einer Bergspitze sitzend, einmal von einer Wolke aus ins Weltall blickend, oft auch einfach nur einem Schmetterling nachjagend. Seine Kriegskameraden, mit denen er sich zum Schachspiel trifft, zu Domino und Poker, erkundigen sich bei ihm, was es denn mit dieser immer wiederkehrenden Figur für eine Bewandtnis habe, die er mitunter auch in Buchwidmungen einfügt und in Freundesbriefen. Saint-Ex gibt nur sehr verschwommen Auskunft: Der kleine Kerl gehe ihm eben im Kopf herum, er symbolisiere die Träume, denen der Mensch nachlaufe, c’est tout.

      Als Antoine de Saint-Exupéry im Sommer 1942 in nächster Nähe seiner New Yorker Wohnung, im Café Arnold am Columbus Circle, mit seinem amerikanischen Verleger, Curtis Hitchcock, zu einer Unterredung zusammentrifft, kommt er wieder einmal ins Kritzeln – beiläufig und selbstvergessen, auf der Papierserviette, die neben seinem Gedeck liegt. Und wieder ist es dieser sonderbare kleine Junge, den er da mit ein paar Bleistiftstrichen zu flüchtigem Leben erweckt. Das Motiv hat etwas eindringlich Melancholisches, deutet auf Einsamkeit hin und auf Traurigkeit – Hitchcock greift das Thema auf und läßt nicht eher locker, als bis ihm sein Autor Rede und Antwort steht. Wäre das denn nicht etwas für ein Kinderbuch? Für ein modernes Märchen – vom Autor selbst illustriert?

      Saint-Exupéry erschrickt: An so etwas hat er nie gedacht. Aber er läßt sich überreden. Und macht sich, als er einige Wochen später in Bevin House auf Long Island seine ideale Traumwerkstatt gefunden hat, an die Arbeit. Nacht für Nacht – wie ein Besessener schreibt er die Geschichte vom kleinen Prinzen nieder, der von Planet zu Planet eilt, von Enttäuschung zu Enttäuschung, und schließlich in der Einsamkeit der Wüste mit einem notgelandeten Piloten Freundschaft schließt.

      Das »Material« für sein Märchen hat er im Überfluß zur Hand: Da sind die eigenen Wunschträume des passionierten Fliegers, der, seitdem er diesen Beruf ausübt, in Kontinenten und Kosmen zu denken gewohnt ist; da ist die Erinnerung an seine Notlandung in der Sahara, die ihn, zusammen mit einem Techniker, fünf Tage lang ohne Nahrung durch die Wüste irren ließ, bis die beiden von einer Karawane entdeckt und gerettet wurden; da tauchen die Bilder der Kindheit wieder auf – »Mondgucker« nannten sie ihn schon, als er noch zur Schule ging. Und das lautlose Verschwinden des kleinen Erdengastes am Schluß der Geschichte – ist es nicht wie eine makabre Vorwegnahme von Saint-Exupérys eigenem Exodus, der ein Jahr nach Erscheinen des »Kleinen Prinzen«, nun wieder bei seiner alten Fliegereinheit in Nordafrika, zu einem letzten Beobachtungsflug aufsteigt, von dem er – ohne daß sein Ende je genau geklärt worden wäre – nicht mehr zurückkehrt?

      Die Amerikaner, die den »Kleinen Prinzen« noch vor den Franzosen kennenlernen (1943 erscheint in New York die englische Übersetzung, erst 1945 in Paris das französische Original, ganz zu schweigen von Deutschland, wo darüber noch weitere fünf Jahre vergehen), fördern noch manches andere Realitätspartikel zutage: Wer den Autor auch im strengsten New Yorker Winter, bei 15 Grad unter Null, niemals einen Mantel tragen sah, immer nur jenen gewissen langen Schal überm Jackett, der auch dem kleinen Prinzen bei fast allen seinen Abenteuern um den Hals flattert, wird auf Schritt und Tritt auf autobiographische Anspielungen stoßen, und wer gar in die mehr als schwierige Ehe der Saint-Exupérys Einblick gehabt hat, wird in der Parabel von der stolzen und eitlen Rose, deretwegen der kleine Prinz von seinem Planeten Reißaus nimmt, unweigerlich an Consuelo erinnert werden und an die Probleme, die die beiden – vor allem in ihren New Yorker Exiljahren – miteinander gehabt haben.

      In Eaton’s Neck auf Long Island, wo »Der kleine Prinz« entsteht, bleibt Saint-Exupéry, solange es die Witterung zuläßt. Immer wieder verlängert er seinen Aufenthalt in Bevin House, das er so sehr liebt wie keinen Wohnsitz vorher und nachher. Nach der Rückkehr nach Manhattan wechselt er noch einmal die Adresse: Beekman Place an der East Side. Es ist ein exklusives Logis – einer der Vormieter war die Filmschauspielerin Ethel Barrymore. Heute im Schatten des UNO-Hauptquartiers, das gleich daneben in die Skyline ragt, ist die einst berühmte Aussicht nunmehr durch häßliche Industrieanlagen verdorben, und auf den Parkbänken an der Waterfront schlafen die Obdachlosen ihren Rausch aus.

      Schon seit einiger Zeit unternimmt Saint-Exupéry alles Erdenkliche, um wieder nach Nordafrika zurückzugelangen und an der Seite seiner Waffenbrüder am Endkampf gegen Hitlerdeutschland teilzunehmen. Amerika bedeutet für ihn doppeltes Exil: fern der Sprachheimat und fern dem Fliegerhimmel. Endlich, am 15. März 1943, erhält er die Ausreisepapiere; die Kostümwerkstätten der Metropolitan Opera fertigen ihm im Eiltempo eine Privatuniform an. Vier Tage vor seiner Einschiffung nach Algier feiert die »New York Herald Tribune Weekly Book Review« das Erscheinen der Erstausgabe des »Kleinen Prinzen« – Rezensentin ist jene Pamela Travers, deren Weltbestseller »Mary Poppins« Saint-Exupéry bei jeder Gelegenheit als das gelungenste Kinderbuch seiner Zeit gepriesen hat.

      In großer Hast nimmt der Dichter von seinen Freunden in Amerika Abschied. Silvia Hamilton Reinhardt, die er im Hause seines englischen Übersetzers Lewis Galantière kennengelernt hat und die ihm eine goldene Erkennungsmarke mit fix und fertig eingravierten Daten (inklusive Blutgruppe) zum Geschenk macht, empfängt als Gegengabe seine alte Zeiss Ikon und das Ur-Manuskript des »Petit Prince«.

      Die 175 Blatt Dünnpost mit den Text- und Bildentwürfen, zum Teil unvollständig, zum Teil aber auch (der verschiedenen Versionen wegen) doppelt, sind seit 1968 im Besitz der New Yorker Pierpont Morgan Library, und Kurator Herbert Cahoon, der der Autographensammlung des altehrwürdigen Instituts an der Madison Avenue vorsteht, erteilt mir die mit vielerlei Formalitäten verbundene Erlaubnis, den kostbaren Schatz einzusehen. Über drei Schreibmaschinenseiten erstrecken sich die Benützerbedingungen, an meinem Platz im Reading Room wird eine Filzdecke ausgebreitet, sodann die Schachtel mit dem »working manuscript« herbeigeschafft,

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