Dietmar Grieser für Kenner. Dietmar Grieser
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1783 wird im Straßburger Münster eine Stelle frei, der Sechsundzwanzigjährige übersiedelt als Adjunkt des Domkapellmeisters ins Elsaß. Noch bevor er dessen Nachfolge antritt, hat er die Staatsbürgerschaft gewechselt: Aus dem Österreicher Pleyl wird der Franzose Pleyel. Als die Revolution ausbricht, hilft ihm das freilich wenig: Als Landsmann der verhaßten Königin Marie Antoinette kann er sich der Guillotine nur entziehen, indem er lautstark den neuen Herren huldigt und für eine der Revolutionsfeiern eine »Hymne à la Liberté« schreibt. Seinen kirchlichen Posten ist er dennoch los: Die Domgottesdienste sind eingestellt, Kardinal Rohan flieht ins Exil, Pleyel selber weicht nach London aus, wo inzwischen auch sein Lehrer Haydn konzertiert.
Als er die Zeit gekommen sieht, einen Neuanfang in Straßburg zu riskieren, landet Pleyel im Kerker. Und um der abermals drohenden Hinrichtung zu entgehen, komponiert er binnen einer Woche, von zwei Gendarmen Tag und Nacht bewacht, eine achtstündige Revolutionsmusik, deren monströse Pathetik – unter Einsatz von Kirchenglocken, Massenchören und Schlachtenlärm – die Republikaner derart begeistert, daß sie ihren Schöpfer in die »Ehrenliste der Revolutionskünstler« aufnehmen. Daß er vermutlich auch die Musik für die Marseillaise beigesteuert hat, kann er freilich nicht auf seine Fahne heften: Das ursprünglich den Soldaten der Rhein-Armee zugedachte Kampflied geht auf einen blutrünstigen Text des Straßburger Pionierhauptmanns Rouget de Lisle zurück, und mit dem ist Pleyel zwar gut Freund, wohnt mit ihm im selben Haus und hat auch schon eines seiner früheren Werke vertont, aber daß die Noten zu »Allons, enfants de la patrie« nicht von einem Franzosen, sondern von einem Ausländer stammen sollen, ist allseits unzumutbar, und so bleibt es wohl für alle Zeiten dabei: Textdichter Rouget de Lisle, obzwar in punkto Musik nur als exzellenter Sänger und Geiger ausgewiesen, hat auch die Melodie der Nationalhymne geschrieben.
Das zweite Leben des Ignaz Pleyl alias Ignace Pleyel setzt 1795 mit seiner Übersiedlung nach Paris ein: Der Achtunddreißigjährige, dessen Sinfonien, Streichquartette und Opern nun immer seltener aufgeführt werden, gründet einen Musikverlag mit eigener Notenstecherei, steigt in den Instrumentenhandel ein und errichtet eine Klavierfabrik, deren Ruhm schon bald den Ruhm des Komponisten gleichen Namens übertreffen wird. Mit der Übergabe des florierenden Unternehmens an seinen Sohn Camille anno 1824 zieht sich der inzwischen Siebenundsechzigjährige auf sein Landgut in der Nähe von Paris zurück, wo er am 14. November 1831 stirbt.
Der Junior, mit Hector Berlioz’ Exbraut Marie Félicité Denise Moke, einer zu ihrer Zeit berühmten Konzertpianistin, verehelicht, hinterläßt keinen männlichen Erben: Der Name Pleyel bleibt nur mehr als Taufpate des führenden Pariser Konzertsaals erhalten und als Klaviermarke. Heute werden die schon von Chopin, Rubinstein und Saint Saëns hochgeschätzten Pleyel-Flügel in einer Werkstätte der südostfranzösischen Provinzstadt Alès hergestellt – und das auch nur, weil sich das Nachfolgeunternehmen des »Autrichien« mit einer Zusatzproduktion von Radio- und Fernsehgeräten über Wasser hält.
Aus: Heimat bist du großer Namen, 2000
Der Ölberg von Hohenseibersdorf
225 Jahre hat er Wind und Wetter getrotzt, zuletzt auch noch den Gefährdungen durch die schweren Maschinen des landwirtschaftlichen Kollektivbetriebs, die während der KP-Ära auf den Feldern ringsum im Einsatz waren, um dem kargen Boden neue Frucht abzugewinnen. Doch außer ein paar Schrammen hat er kaum etwas abbekommen, und auch die brüchigen Stellen an Einfriedung und Sockel gehen nicht auf gewaltsame Eingriffe von Menschenhand zurück, sondern auf das unterirdische Rumoren des Wurzelwerks vom benachbarten Baumriesen. Man wird es also wohl ein Wunder nennen dürfen, daß der steinerne Christus auf dem Ölberg zwischen Mährisch Neudorf und Hohenseibersdorf so gut wie unangefochten die Jahrhunderte überdauert hat, und seitdem der Steinmetz aus dem Tal am Werk ist, die ärgsten Schäden zu beheben, scheint auch seine weitere Zukunft gesichert.
Das einzige an Reparatur, was von Zeit zu Zeit anfällt, ist das behutsame Nachziehen der Schriftzeichen, die über Herkunft und Widmung des Monuments Auskunft geben, und das ist schon deshalb von Bedeutung, weil es nicht irgendein gottesfürchtiger Anonymus gewesen ist, der sich hier als Stifter hervorgetan hat, sondern Franz Schuberts Großvater: der Bauer Carl Schubert aus dem nahen Neudorf im Kreis Mährisch Schönberg. »Aufgerichtet von einem unwürdigen Liebhaber«, lesen wir auf einer der Schrifttafeln, die die mannshohe Statue umkleiden, und wir lesen es mit Rührung. Ein »unwürdiger Liebhaber« des Herrn Jesus Christus – schöner kann man es wohl kaum ausdrücken, als dies der siebenundfünfzigjährige Carl Schubert sieben Jahre vor seinem Tod getan hat.
Er ist kein Krösus, der aus dem Vollen schöpft, sondern ein Landwirt wie viele andere. Was ihn von diesen unterscheidet, ist lediglich sein Mut, gegen die Willkür der Obrigkeit aufzubegehren, die, wenn es ihr nötig erscheint, mit aller Härte die Leibeigenschaft ihrer Untergebenen verteidigt. Bei den Martern des Ölberg-Christus, die er dem Steinmetz darzustellen aufträgt, mag Carl Schubert tief im Innersten also wohl auch an sein eigenes Los und an das seiner Zeitgenossen denken: Der Boden, den er zu bewirtschaften hat, ist steinig, das Klima auf den in 600 Meter Seehöhe gelegenen Feldern an den Ausläufern des Altvatergebirges rauh, das Regiment der Grundherren, die über Wohl und Wehe der 42 Häuser und 253 Einwohner von Neudorf wachen, streng. Sein Sohn Franz Theodor, eines von elf Kindern und zu dieser Zeit ein Bursche von siebzehn Jahren, wird mit einundzwanzig den elterlichen Hof verlassen und im fernen Wien jene Elisabeth Vietz ehelichen, die am 31. Jänner 1797 ein Genie zur Welt bringt: den Komponisten Franz Schubert.
Den Ölberg-Christus von Hohenseibersdorf mag der »Franzl«, dem der Vater sicherlich ab und zu von der alten Heimat erzählt, vom Hörensagen kennen, selbst sehen wird er ihn nie. In den nicht einmal 32 Lebensjahren, die ihm beschieden sind, bleibt keine Zeit, sich im Land seiner Altvorderen umzusehen: Man hat andere Sorgen, als Nostalgiereisen zu unternehmen, kommt ja kaum je aus Wien heraus. Es bleibt also den heutigen Kulturtouristen überlassen, Franz Schuberts nordmährischen Wurzeln nachzuforschen, ja vielleicht sogar die heikle Frage aufzuwerfen, ob dies ausschließlich familiäre, rein stammesgeschichtliche Wurzeln sind und nicht auch musikalische. Welche Lieder hat die Mutter ihrem »Franzl« vorgesungen, welche Melodien hat der Vater daheim auf seiner Geige gespielt? Waren es mährische Volksweisen? Um 1830 kommt in Nordböhmen die Polka auf – da liegt Franz Schubert zwar schon zwei Jahre unter der Erde. Doch was ist mit ihren Vorläufern? Fragen über Fragen – und zugegeben: alle sehr hypothetisch. Der Wiener Musikwissenschaftler Gustav Danzinger hat sie vor einigen Jahren immerhin zur Diskussion gestellt.
Was klar auf dem Tisch liegt, sind die genealogischen Fakten, und die sind interessant genug. Seitdem Martha Böhm-Schubert, die hochbetagt in Wien lebende Urgroßenkelin von Franz Schuberts Bruder Ferdinand, alles Familiengeschichtliche akribisch aufgearbeitet, wiederholt auch die Stätten der mährischen Urheimat aufgesucht und ihre vielfältigen Funde in dem 1997 erschienenen Privatdruck »Franz Schuberts Großvater« niedergelegt hat, ist es ein Leichtes, sich trotz der inzwischen durchwegs veränderten Ortsnamen in der strittigen Gegend zurechtzufinden.
Ich beginne – wie schon eingangs erwähnt – mit der von Großvater Carl Schubert gestifteten Christusfigur