Dietmar Grieser für Kenner. Dietmar Grieser
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Auch die Weiterfahrt durch die nähere Umgebung von Zuckmantel, zu der ich mich entschließe, lohnt sich: In Freiwaldau stoße ich auf Spuren des »Wasserdoktors« Vinzenz Prießnitz, der hier, ursprünglich ein einfacher Bauer, lange vor Kneipp die heilende Kraft kalten Quellwassers entdeckt hat; im Schloß Johannesberg bei Jauernig, einst die Sommerresidenz der Breslauer Bischöfe, hat der in Wien geborene Carl Ditters von Dittersdorf viele Jahre als Hofkomponist gewirkt; und in Reihwiesen, dem höchstgelegenen Ort im ehemaligen Österreichisch-Schlesien, kann man noch heute einen Teil jener rund 300 Sessel bestaunen, die der Herbergswirt Alfred Brauner, nebenbei ein virtuoser Holzschnitzer, für seine Stammgäste angefertigt und mit deren Porträt versehen hat. In dem florierenden Wandererparadies mit den idyllischen Waldwegen und den gemütlichen Blockhäusern sind auch Gäste aus unseren Breiten willkommen: »Hier schlafen Sie gut!« verkündet eines der deutschsprachigen Reklameschilder.
Zurück zu Franz Schubert. Seit 1772 ist seine spätere Mutter, die Dienstmagd Elisabeth Katharina Vietz, in Wien ansässig, seit 1783 der Schulgehilfe Franz Theodor Schubert, dem sein älterer Bruder eine Stelle als Hilfslehrer an der Karmeliterschule verschafft hat. 1784 lernen die Achtundzwanzigjährige und der sechs Jahre Jüngere einander in der Wiener Vorstadt Lichtenthal kennen, im Jahr darauf wird geheiratet. Franz Theodor, wohl der geborene Pädagoge, kann sich schon bald verbessern und wird zum ordentlichen Schullehrer am Himmelpfortgrund ernannt; Elisabeth Katharina bringt im Haus zum Roten Krebsen, das sowohl Schule wie Wohnung beherbergt, nicht weniger als vierzehn Kinder zur Welt, von denen freilich nur fünf das Erwachsenenalter erreichen. Das vorletzte, wieder ein Bub, wird am 31. Jänner 1797 geboren und am Tag darauf in der Pfarrkirche zu den vierzehn Nothelfern auf die Namen Franz Seraph Peter getauft. Es ist unser aller Franz Schubert.
Aus: Die böhmische Großmutter, 2005
»Aufhören, das ist ja furchtbar!«
Der Grabstein aus schwarzem Granit überragt an Höhe alle seine Nachbarn, und die vor kurzem erneuerte Silberschrift bezeugt, daß auch in punkto Instandhaltung und Pflege mustergültig vorgesorgt ist. Ich stehe vor der letzten Ruhestätte von Bernard und Marie Mahler auf dem jüdischen Friedhof von Iglau, die Gustav Mahler in jenem Unglücksjahr 1889 hat errichten lassen, in dem er dicht hintereinander Vater, Mutter und Schwester Leopoldine verloren hat. Auch an einer Reihe weiterer Gräber kehrt der Familienname des zu dieser Zeit Neunundzwanzigjährigen wieder, der seit einigen Monaten Direktor der königlich-ungarischen Oper in Budapest ist und in wenigen Tagen die Uraufführung seiner Ersten Symphonie erleben wird.
Friedhöfe gleichen aufgeschlagenen Geschichtsbüchern: Mein Rundgang über den jüdischen und den gleich nebenan befindlichen Zentralfriedhof von Iglau erinnert mich auf Schritt und Tritt an all die vielen anderen Berühmtheiten aus dem alten Österreich, die in und um Gustav Mahlers Kindheitsstadt ihre Wurzeln haben: der Komponist Johann Stamitz, der Architekt und Designer Josef Hoffmann, der Nationalökonom Joseph Schumpeter, der Sozialreformer Julius Tandler. Auch weniger erfreuliche Gestalten sind darunter – etwa der im Zuge der Nürnberger Prozesse hingerichtete Wiener NS-Reichsstatthalter Arthur Seyss-Inquart. Und eine vorzüglich deutsch sprechende ältere Frau, mit der ich ins Gespräch komme, klärt mich mit verschmitztem Lächeln darüber auf, daß auch ihr Fernsehliebling Harald Schmidt mährisches Blut in seinen Adern hat: Seine Eltern stammen aus der ehemaligen deutschen Sprachinsel Iglau.
Gustav Mahler kommt erst als Kleinkind von drei Monaten in die mit ihren 17 000 Einwohnern drittgrößte Stadt Mährens: Sein Geburtsort ist das 40 Kilometer entfernte Dorf Kalischt, wo Vater Bernard eine kleine Branntweinschenke betreibt. In späteren Jahren wird der inzwischen Arrivierte, mit der Bratschistin Natalie Bauer-Lechner im Böhmerland unterwegs, in dem nach wie vor unattraktiven Nest Station machen und seiner Seelenfreundin die Stätte seiner Herkunft zeigen:
»Siehst du, in einem so armseligen Häusel bin ich geboren; nicht einmal Scheiben waren in den Fenstern. Vor dem Haus breitete sich ein Wassertümpel aus.«
Heute, weitere 110 Jahre später, findet der Tourist die 1937 niedergebrannte Keusche nach den ursprünglichen Plänen wiederaufgebaut: Mit dem Autohersteller Opel und dem tschechischen Filmregisseur Miloš Forman als Sponsoren ist während der Präsidentschaft Václav Havels aus dem Mahler-Geburtshaus ein vielfrequentiertes Musikzentrum geworden.
Gustav Mahlers Vater Bernard ist ein gutes Beispiel für den sowohl geschäftlichen wie sozialen Aufstieg der lange Zeit in ärmlichsten Verhältnissen lebenden jüdischen Minderheit. Seine Mutter, als Wanderhändlerin noch mit 80 Jahren zu Fuß unterwegs, um, den Korb auf dem Rükken, von Haus zu Haus ihre Tücher und Bänder feilzubieten, wird wegen unbewilligter Geschäfte von der Behörde aufgegriffen. Daß es ihr gelingt, eine Audienz beim Kaiser zu erwirken, und tatsächlich Straferlaß erreicht, mag schon ein erstes Indiz für jene unbändige Energie und Durchsetzungskraft sein, die später – und auf gänzlich anderem Gebiet – ihr Enkel Gustav entwickeln wird, dem seine Erfolge als Musiker, Dirigent, Theaterleiter und Komponist ja ebenfalls nicht in den Schoß fallen …
Auch Vater Bernard Mahler fängt klein an: Er nimmt Gelegenheitsarbeiten in dieser und jener Manufaktur an, ehe er sich als Fuhrmann selbständig macht, und da er auf seinen Ausfahrten stets Lesestoff mit sich führt, sich sogar in französische Bücher vertieft (was ihm den Spitznamen »Kutschbockgelehrter« einträgt), findet er fallweise auch als Hauslehrer Verwendung. Wirklich sanieren kann er sich allerdings erst mit Hilfe seiner Frau: Die zehn Jahre jüngere Marie Hermann, Tochter eines begüterten jüdischen Seifensieders aus dem nahen Ledetsch, tritt mit einer Mitgift von 3500 Gulden in den 1857 geschlossenen Ehebund ein. Zwar passen die sanftmütige, von Geburt an mit einem Gehfehler behaftete Marie und der zu Jähzorn und Gewalttätigkeit neigende Bernard wie Feuer und Wasser zueinander, doch den Brauteltern scheint das zielstrebige Naturell des Bräutigams zu imponieren, und dieser wiederum hat es auf das Geld seiner Zukünftigen abgesehen.
Das zweite der insgesamt 13 Kinder, die Marie Mahler, die fast ununterbrochen Schwangere, zur Welt bringt, ist Gustav. Isidor, der Erstgeborene, kommt, nur wenige Wochen alt, bei einem Unfall ums Leben. Mit Hilfe der Hermannschen Mitgift kann die dreiköpfige Jungfamilie 1860 den Sprung in die Stadt wagen: Am 22. Oktober – da ist Gustav dreieinhalb Monate alt – wird nach Iglau übersiedelt.
Die nach Brünn und Olmütz drittgrößte Stadt Mährens, einst für ihren Silberbergbau, nun für ihr Tuchmachergewerbe berühmt, ist Sitz der Bezirkshauptmannschaft, verfügt über eine große Garnison und wird bald auch – freilich mit einer weitab vom Zentrum gelegenen Station – ans Eisenbahnnetz angeschlossen werden. Wandernde Handwerkergesellen haben im ausgehenden 16. Jahrhundert eine Meistersingerschule in Iglau gegründet, und im Gymnasium wird während der Reformationszeit nach den Lehrplänen des Kirchenreformers Melanchthon unterrichtet. Das Drei-Sparten-Theater (für Schauspiel, Oper und Operette) hat über 1000 Plätze; in der Pfarrkirche zu St. Jakob werden Mozarts Requiem und Rossinis Stabat mater aufgeführt. Der langgestreckte, von stolzen Patrizierhäusern umstellte Marktplatz ist der größte des Landes; die zu vier Fünfteln vorherrschende Umgangssprache ist Deutsch.
Seitdem Kaiser Franz Joseph am 21. Oktober 1860 sein Manifest »An meine Völker« erlassen hat, das den habsburgischen Kronländern ein deutliches Mehr an Eigenständigkeit einräumt, ist auch die Niederlassungsfreiheit für die jüdische Minderheit gesichert; in einem eigenen Dekret wird ihnen das Recht zugestanden, Grundbesitz zu erwerben.
Einer der ersten, die davon Gebrauch machen, ist der siebenundzwanzigjährige Bernard Mahler: Mit Gattin Marie und Söhnchen Gustav richtet