Dietmar Grieser für Kenner. Dietmar Grieser

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Dietmar Grieser für Kenner - Dietmar Grieser

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freundliche Einheimische, die ich über den Gartenzaun ihrer Keusche hinweg ausfrage. Ich bewege mich in einer Streusiedlung ohne eigentlichen Ortskern, und Wegweiser – gar solche mit Schubert-Bezug – gibt es nicht. Die Freude ist also groß, als ich schließlich – nach einigen Irrwegen – tatsächlich vor der gesuchten Statue stehe. Schönstes Spätbarock. Ringsum unbewirtschaftete Felder, da ein Birkenwäldchen, dort ein einzelner Baumriese, dazwischen Wiesenblumen, üppig wucherndes Unkraut, Klee in allen Varianten. Einer, der vor mir dagewesen ist, hat dem Heiland einen mittlerweile vertrockneten Feldblumenstrauß auf den steinernen Arm gelegt. Sämtliche Inschriften, auch die einschlägigen Zitate aus dem Neuen Testament, die Sockel und Altartisch schmücken, sind gut lesbar – hoffentlich werden sie es auch auf den Fotos sein, die ich knipse.

      An diesem Platz, den ich mit so viel Mühe ausfindig gemacht habe, ist vor mehr als zwei Jahrhunderten Franz Schuberts Vater Tag für Tag vorübergeschritten, als er vom elterlichen Bauernhof den einstündigen Fußmarsch zur Schule zurücklegte, in der er als Hilfslehrer sein erstes Geld verdiente. Es ist der nämliche Weg, der ihm auch schon als Kind vertraut war, als er noch selber in Hohenseibersdorf zur Schule ging (ehe ihn die Eltern zum Gymnasialunterricht ins Brünner Jesuitenkolleg schickten).

      Die Schuberts in Neudorf waren also – bei aller Abhängigkeit von der Liechtensteinschen Güterverwaltung, der sie unterstanden – ambitionierte Ackerbauern von »gehobenem« Stand. Wie sonst hätten sie ein so aufwendiges Denkmal wie den Ölberg-Christus in Auftrag geben können? Für 237 Gulden haben sie ihren Hof erworben; das alte Bauernhaus hat sich bis lange ins 20. Jahrhundert erhalten, 1928 wurde neben dem Eingangstor sogar eine Gedenktafel angebracht. Heute steht von alledem nichts mehr; nur die Kapelle, deren Errichtung ebenfalls auf das Konto von Franz Schuberts Großvater geht, ist in jüngster Zeit erneuert worden.

      Leichter zu finden als der auf seiner Bergwiese versteckte Christus, ist die Schubert-Kapelle inzwischen das eigentliche Ziel der Musikenthusiasten aus Tschechien, Deutschland und Österreich. Neudorf heißt heute Vysoká – schon von weitem sehe ich das strahlend weiße Kirchlein auf dem sattgrünen Wiesengrund. An dem schmalen Fußweg, der hinführt, ein paar Ferienhäuser, in deren Vorgärtchen die Wirtsleute mit ihren Sommergästen zum Nachmittagsplausch beisammensitzen. Die Familie, der die Obsorge für die Schubert-Kapelle aufgetragen ist, treffe ich zu meinem Bedauern nicht an, und von den Nachbarn verfügt keiner über den Schlüssel. Ich muß mich also mit einem Blick von außen begnügen, und die herrenlose Katze, die sich ins Innere der Kapelle verirrt hat und nun mit lautem Klagen um Befreiung bettelt, kann von mir keine Hilfe erwarten.

      Einmal im Jahr wird hier eine Gedenkmesse gefeiert: Da rücken von überallher die Mitglieder der Tschechisch-Österreichischen Schubert-Gesellschaft an und halten in einem nahegelegenen Hotel auch gleich ihre Generalversammlung ab. Die am Ortseingang errichtete Schautafel weist ihnen den Weg zu den diversen Schubert-Gedenkstätten, während das auf dem Gelände vor der Kapelle angelegte Mahnmal mit den symbolischen Jahreszahlen 1914 und 1989 eine Art Brücke zu jenen politischen Umwälzungen schlagen soll, die das Land in neuerer Zeit teils heimgesucht, teils befriedet haben: In tschechischer, deutscher, polnischer und englischer Sprache wird »der Opfer der Kriege, des Terrors und der Unfreiheit« gedacht.

      Das Hotel »Franz Schubert« im Nachbarort Vojtíškov, für das ein Hinweis auf der vorerwähnten Schautafel wirbt, existiert nicht; stattdessen lande ich in einer trübseligen Herberge mit der Aufschrift »Pension Sport« – es ist also wohl doch nicht ganz so leicht, in dem Land, in dem seit dem 16. Jahrhundert die Schuberts siedeln, den berühmten Namen zu vermarkten …

      War es nicht schon schwierig genug, überhaupt zu klären, wo dieses Neudorf, aus dem Franz Schuberts Vater stammt, zu finden ist? Einer, der sich dafür brennend interessiert, ist um 1900 der Wiener Komponist Richard Heuberger, der gerade mit großem Erfolg seine Operette »Opernball« herausgebracht hat. Leiter des Akademischen Gesangvereins, Lehrer am Wiener Konservatorium und Nachfolger des berühmten Eduard Hanslick als Musikkritiker der »Neuen Freien Presse«, ist Heuberger ein leidenschaftlicher Bewunderer Schuberts, studiert sämtliche erreichbare Literatur über sein Vorbild. Heinrich Kreissle von Hellborns Biographie ist zu dieser Zeit das letztgültige Standardwerk. Doch es weist Lücken auf. Die einzige Auskunft, die der Autor bezüglich Schuberts Abstammung erteilt, lautet: »Sein Vater war der Sohn eines Bauern und Ortsrichters in Mährisch Neudorf.« Heuberger will es genauer wissen: Einen Ort dieses Namens gibt es nicht weniger als 35 Mal! Welcher der 35 ist der richtige?

      Es wird ein hartes Stück Arbeit. Zuerst einmal gilt es, all die vielen über Mähren verteilten Neudorf zu »orten«, ihre jeweilige pfarramtliche Zugehörigkeit zu klären und schließlich die einzelnen Postadressen zu eruieren. Sodann schreibt er eine Pfarrkanzlei nach der anderen an – »per Korrespondenzkarte mit angebogener, an mich rückadressierter Antwortkarte«. Das Unternehmen verläuft mühsam: Während die einen nach erfolgter Überprüfung der Taufregister mit – wie nicht anders zu erwarten – negativem Bescheid reagieren, bleiben etliche andere stumm: Es handelt sich um Vorsteher tschechischer Pfarrgemeinden, die es brüsk ablehnen, eine in deutscher Sprache abgefaßte Anfrage zu bearbeiten, ja zum Teil sogar die Annahme des Poststücks verweigern. Zum Glück ist der gesuchte Ort eine deutschsprachige Gemeinde, und so gelangt Richard Heuberger schließlich doch ans Ziel; Pfarradministrator Raphael Riml antwortet ihm am 22. August 1900:

      »Euer Wohlgeboren! Carl Schubert, Bauer in Neudorf, Pfarre Hohenseibersdorf, ist gestorben 24. Dezember 1787 am Durchbruch des Leibes. Dessen Sohn Franz Theodor wurde geboren 11. Juli 1763 in Neudorf. Nachkommen dieser Familie leben bis jetzt in Neudorf. Zu weiteren Diensten stets bereit …«

      Die »weiteren Dienste« erübrigen sich: Franz Schuberts Abstammung aus Mährisch Neudorf, Gerichtsbezirk Altstadt, Bezirkshauptmannschaft Mährisch Schönberg, ist ein für allemal geklärt.

      Geklärt ist übrigens auch die Herkunft der Mutter. Ebenso wie der Vater ist diese Elisabeth Katharina Vietz keine Wienerin von Geblüt, sondern stammt aus dem mährischen Teil Schlesiens. Und obwohl ihr Geburtsort Zuckmantel von Vater Schuberts Geburtsort Neudorf nur 30 Kilometer entfernt ist, lernen die beiden Landsleute einander nicht in der gemeinsamen Heimat, sondern in Wien kennen. Doch davon später.

      Ist Franz Theodor Schubert im bäuerlichen Milieu aufgewachsen, so gehören die Vietz dem Handwerkerstand an: Der Vater ist Schlossermeister und Büchsenmacher. Daß er 1772 – da ist Tochter Elisabeth Katharina ein Mädchen von knapp sechzehn – nach Wien »auswandert«, hat zwei Gründe: Erstens ist durch die Verheerungen der Schlesischen Kriege die Grenzregion am Nordrand des Habsburgerreiches verarmt, und zweitens hat sich Johann Vietz als Vorsteher seiner Gilde an deren Kasse vergriffen und ist in Schande geraten. Sein Plan, in der Reichshaupt- und Residenzstadt unterzutauchen und dort für sich und die Seinen eine neue Existenz aufzubauen, bedeutet also Flucht. Doch sein Plan schlägt fehl: Schon vor der Übersiedlung schwerkrank, stirbt Johann Vietz wenige Stunden nach seiner Ankunft im Wirtshaus zum Goldenen Lamm in der Naglergasse, wo er mit den drei Kindern Quartier bezogen hat. Noch schlimmer das Los seiner Frau: Sie ist schon unterwegs verschieden. Zum Glück finden die drei Vollwaisen in Wien Arbeit: Sohn Felix verdingt sich als Webergeselle, die Töchter Elisabeth Katharina und Maria Magdalena bringen sich als Köchin bzw. Hausmagd durch.

      An Elisabeth Katharina, die 24 Jahre später die Mutter des Musikgenies Franz Schubert werden wird, erinnert in ihrem Geburtsort Zuckmantel eine Gedenktafel, die übrigens in besserem Zustand ist als das dazugehörige Haus: Hauptstraße 51. Außerdem hat man vor einiger Zeit eine dringend nötige Korrektur vorgenommen: Die schöne Plakette mit dem neobiedermeierlichen Dekor hing jahrelang am falschen Haus.

      Das lebhafte Kleinstädtchen, das heute Zlaté Hory heißt, ist auch sonst reich an Überraschungen: Beim Schlendern durch die alten Gassen höre ich aus einem der neueren Gebäude kräftiges Klavierspiel. Es ist ein merkwürdiges Klanggemisch, muß wohl aus mehreren Räumen kommen. Ich verlangsame also meinen Schritt, um dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Die Tafel am Hauseingang bringt die erhoffte Erklärung: Es ist die örtliche Musikschule.

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