Dietmar Grieser für Kenner. Dietmar Grieser
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Rasch ist ein Untermietzimmer für den angehenden Musikstudenten gefunden: Im 4. Stock des Hauses Margaretenstraße 7 hält der siebzehnjährige Gustav Mahler Einzug. Bei Franz Krenn belegt er die Fächer Komposition und Kontrapunkt, bei Robert Fuchs Harmonielehre, an der Universität besucht er die Vorlesungen von Anton Bruckner, und Julius Epstein, für die weitere Vervollkommnung am Klavier zuständig, ist und bleibt der große Gönner, der ihm auch zuredet, das wenig verlockend erscheinende Kapellmeisterengagement anzunehmen: beim Kurorchester in dem oberösterreichischen Thermalbad Hall. Kommentar des 28 Jahre Älteren: «Egal, wo Sie beginnen – Sie werden bald andere Stellungen finden.«
Gustav Mahler findet sie in Laibach, Olmütz, Prag und Leipzig. 1888 wird er Chef der Budapester Oper, 1891 erster Kapellmeister am Hamburger Stadttheater, 1897 Direktor der k.k. Hofoper in Wien.
In den ersten Jahren nach seinem Weggang aus Iglau kehrt er, so oft es ihm der Terminkalender erlaubt, besuchsweise ins Elternhaus zurück, verbringt daheim Feier- und Ferientage. Bei Konzertauftritten versucht er den Iglauern seine eigene Musik nahe zu bringen, ohne deswegen »Leichteres« zu verschmähen: Am 21. September 1882 dirigiert der Zweiundzwanzigjährige sogar eine Operette – es ist Franz von Suppés »Boccaccio«.
Auch seine erste Liebe absolviert er in Iglau: Der gleichaltrigen Josefa Poisl, Tochter des Vorstandes des örtlichen Telegraphenamtes, widmet der Achtzehnjährige gefühlvolle Briefe, Gedichte und Lieder. Eines davon, »Maitanz im Grünen«, erinnert daran, daß er von Kind an, als er noch an der Seite des Vaters die Wälder der Umgebung durchstreift, eine starke Liebe zur Natur empfindet. Auch davon, also von den Stimmen der Landschaft, der Bäume, der Vögel, des Himmels und der Erde wird in späteren Jahren so manches in sein Werk einfließen.
Als im Februar 1889 der Vater und acht Monate später die Mutter stirbt, nimmt er die Errichtung eines repräsentativen Grabmals in die Hand, löst das Familieneigentum auf, begleicht die angefallenen Schulden, kümmert sich um die Geschwister. Von der gesamten Hinterlassenschaft nimmt er nur den alten, schon zerschlissenen Lehnstuhl des Vaters nach Wien mit – vielleicht, um damit seine Entschlossenheit zu signalisieren, fortan die verantwortungsvolle Rolle des Familienoberhauptes zu übernehmen. Den Schwestern Justine und Emma ist er ein vorbildlicher Vormund, den musikalisch talentierten Bruder Otto holt er nach Wien und verschafft ihm einen Ausbildungsplatz am Konservatorium. Das Wohnrecht, das ihm die Stadt Iglau einräumt, wird er niemals aufgeben, auch wenn er davon keinerlei Gebrauch macht.
Gustav Mahler ist keine 51 Jahre alt, als er am 18. Mai 1911 in Wien stirbt; die Beisetzung erfolgt auf dem Grinzinger Friedhof. Auch wenn die Stadt seiner Kindheit und Jugend in den folgenden Jahrzehnten keine Gelegenheit auslassen wird, ihres großen Sohnes zu gedenken und zu den runden Geburts- und Todestagen Mahler-Konzerte, Feierstunden und Denkmalsenthüllungen zu veranstalten – die Iglauer Ehrenbürgerschaft, zuerst von den Nazis und nachher auch von den Kommunisten im Stadtsenat abgelehnt, erhält er erst 88 Jahre nach seinem Tod. Von den Ubikationen, die seinen Namen tragen, sind nur das im ehemaligen Elternhaus installierte »Café Mahler« und das zum »Hotel Gustav Mahler« umgewandelte Dominikanerkloster ganzjährig zugänglich. Die vorzügliche Dauerausstellung »Der junge Gustav Mahler und Iglau« ist zwischen November und April geschlossen. Dr. Alena Jakubicková, die ebenso kundige wie freundliche Kustodin, macht bei mir eine Ausnahme und geleitet mich trotz »Wintersperre« durch die sehenswerte Sammlung. Ganzjährige Öffnung, so gibt sie mir zu verstehen, lohne den Aufwand nicht: Die Zahl der Besucher, die nach Iglau kommen, um auf Gustav Mahlers Spuren zu wandeln, halte sich in engen Grenzen.
Aus: Die böhmische Großmutter, 2005
Dietmar Grieser auf den Spuren bewegender Schicksale
Eine Liebe in Wien
Nikolai Basilowitsch Kobelkoff
Die Zeiten, da Behinderte ihre Behinderung zum Beruf machen mußten, sie »ausstellen«, stilisieren und deren Bezwingung zur Zirkus-, Varieté- oder Schaubudennummer ummünzen, sind zum Glück vorbei. Die Mißgeburt braucht sich nicht mehr als solche vor zahlendem Publikum zu produzieren: Ein hochentwickeltes System aus Rehabilitation und Integration erspart es Zwerg und Riese, ihre physische Abnormität zu Markte zu tragen. Der Sozialstaat weiß das Sensationsbedürfnis des Menschen mit anderen Attraktionen zu bedienen: solchen technischer Natur.
Im vorigen Jahrhundert war das anders. Wer als Liliputaner oder als siamesische Zwillinge auf die Welt kam, hatte, sofern ihnen überhaupt ein dauerhaftes Leben beschieden war, nur die Wahl, vor einer grausam-spöttischen Mitwelt versteckt oder aber im Gegenteil für klingende Münze von ihr bestaunt zu werden. In diesem Fall kam es darauf an, was der Betreffende aus seinem Handicap zu »machen« verstand. Dann freilich war das Publikum sogar bereit, von Verachtung oder Mitleid auf Bewunderung umzuschalten, und aus dem Krüppel wurde ein für seine Willensstärke und Kunstfertigkeit gefeierter Held.
So einer – und einer der Erfolgreichsten und Berühmtesten seiner Art – war der »Rumpfmensch« Nikolai Basilowitsch Kobelkoff. Und Wien war der Ort, an dem er jenes Zipfelchen Glück fand, das auch diesem zutiefst Bedauernswerten das Leben lebenswert machte …
Die Kobelkoffs sind im russischen Gouvernement Cherson daheim. Troizk heißt das Dorf im Kreis Wosnessensk, wo der Vater Kosakenhauptmann und Bürgermeister ist. Das Geld, das er für den Unterhalt seiner vielköpfigen Familie braucht, verdient er in einem nahen Goldbergwerk. Von den fünfzehn Kindern, die seine Frau Natalie zur Welt bringt, sind vierzehn ganz normal gewachsen – nur Nikolai, geboren am 22. Juli 1851, schlägt aus der Art. Die Hebamme bringt es nicht über sich, der jungen Mutter das Neugeborene zu zeigen: Es hat weder Arme noch Beine. Doch der Krüppel, sonst von durchaus kräftiger Statur, überlebt. Die Frauen im Dorf, die von der Mißgestalt wissen, schlagen verängstigt das Kreuz, wenn sie ihrer ansichtig werden: Das kann doch nur eine Ausgeburt der Hölle sein.
Zweierlei hat Nikolai mit auf den Lebensweg bekommen, was ihn in den Stand setzt, seine körperliche Unzulänglichkeit zu überwinden: eine enorme Vitalität und einen unbändigen Trotz. Schon der Zweijährige überrascht seine Eltern mit Versuchen, auf seinen Beinstümpfen laufen zu lernen, und indem er bei Tisch das Besteck geschickt zwischen Wange und Armstumpf klemmt, gelingt es ihm mit der Zeit sogar, das Essen zu zerteilen und zum Mund zu führen. Beim An- und Auskleiden nimmt er die Zähne zu Hilfe.
Als Nikolai zehn ist, kann man den Versuch wagen, ihn zur weiteren Ausbildung dem Popen von Tobotiz anzuvertrauen: Unter dessen geduldiger Anleitung lernt er schreiben, Papier schneiden, nähen. Auch beim Fischen und auf der Jagd wird er später seinen Mann stellen; das Dreigespann lenkt er, indem er die Zügel um den Nacken schlingt; mit dem Halsmuskel und dem aus der rechten Achselhöhle ragenden Armstummel ersetzt er, was ihm die Natur an Greifwerkzeug vorenthalten hat.
Das Wunder wird wahr: Nikolai kann mit achtzehn ins Berufsleben eintreten, Vater Kobelkoff verschafft ihm eine Stelle als Schreiber im selben Goldbergwerk, in dem auch er beschäftigt ist. Man vertraut ihm die Führung der Lohnlisten an, dank seiner gestochen klaren Handschrift wird er auch zur Korrespondenz mit herangezogen.
Die für sein weiteres Fortkommen entscheidende Begegnung hat Nikolai jedoch auf einem der Jahrmärkte der Gegend: Ein Moskauer Menagerieunternehmer namens Berg kann den inzwischen Zwanzigjährigen dazu überreden, aus der Not eine Tugend zu machen und sein Glück als Schaubudenattraktion zu versuchen. Er verläßt das Elternhaus und zieht fortan als »Rumpfmensch« von Stadt zu Stadt. Achtzig Zentimeter groß und sechzig Kilo schwer, zeigt er vor zahlendem, zwischen Mitleid, Staunen und Bewunderung schwankendem Publikum seine makabren Künste: läßt sich im Kostüm des Uralkosaken auf die Bühne hinaustragen, produziert sich als Schnellzeichner, schneidet Silhouetten, zielt mit der