Dietmar Grieser für Kenner. Dietmar Grieser
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Bis zu fünfzigmal am Tag verwandelt sich der Krüppel, dessen Bettstatt die Maße einer Wiege hat und dessen Fahrzeug ein dreirädriger Kinderwagen mit dichtgeschlossenem Vorhang ist, in einen Artisten der Sonderklasse. Kasan, Moskau, St. Petersburg, Odessa, Wilna, Warschau und Kiew – überall strömt ihm das Rummelplatzpublikum zu, und bald wird er sogar die Grenzen des Zarenreichs überschreiten und auch in Damaskus und Jerusalem auftreten, in Suez und Konstantinopel, und als er 1875, nun in Skandinavien und Deutschland unterwegs, die Bekanntschaft des führenden Praterunternehmers August Schaaf macht, holt ihn dieser nach Wien.
Nikolai Basilowitsch Kobelkoff ist nun vierundzwanzig, also in dem Alter, wo andere heiraten. Aber für eine Mißgeburt seines Schlages kommt so etwas natürlich nicht in Betracht. Wie sollte ein Mann wie er eine Frau glücklich machen? Und gar eine Familie gründen?
Doch das Unglaubliche tritt ein: Anna Wilfert, sechs Jahre jünger als er, Tochter eines aus Deutschland zugewanderten Geometers und Schwägerin des Praterunternehmers August Schaaf, ist nicht nur bereit, sondern gegen alle Widerstände von außen fest entschlossen, dem Werben des »Rumpfmenschen« nachzugeben und mit ihm in den Stand der Ehe zu treten. Ein Krüppel, der noch dazu kaum ein Wort Deutsch spricht – die Eltern der Braut können einen solchen Heiratsantrag nur als freche Zumutung zurückweisen. Auch der Pope, der die Trauung vornehmen soll, gibt sich entrüstet: Da aus einer solchen Ehe niemals Kinder hervorgehen können (und dürfen), wäre sie in seinen Augen eine glatte Gotteslästerung. Außerdem ist die Braut nicht willens, zum russischorthodoxen Glauben zu konvertieren.
Ein zweiter Versuch – diesmal in Dresden – schlägt gleichfalls fehl. Erst beim dritten hat man Glück: Ein evangelischer Pastor in Budapest erklärt sich bereit, Nikolai und Anna den kirchlichen Segen zu erteilen, und so tritt das ungleiche Paar im Jahr darauf in der Deak-Kirche zu Pest vor den Altar. Es wird ein Trauungsakt, wie ihn die Welt kaum je gesehen hat: Die Braut in Myrtenkranz und Schleier trägt den Bräutigam auf ihren beiden Armen zum Altar, mit den Zähnen steckt er ihr den Ehering an, er selber wird den seinen zeitlebens in einem ledernen Etui tragen, das ihm um die Brust hängt.
Von Wien aus zieht Nikolai Basilowitsch Kobelkoff nun zu seinen weiteren Auftritten von Stadt zu Stadt, von Land zu Land – und seine junge Frau mit ihm: als Gefährtin und Impresario. In nicht weniger als sieben Sprachen kann er sich mittlerweile verständigen. 1882 wird der amerikanische Zirkus Barnum & Bailey auf ihn aufmerksam und nimmt ihn für einige Jahre unter Vertrag. In Wien noch für 10 Kronen auftretend, scheffelt Kobelkoff nun das große Geld und kann somit jenen Grundstock anlegen, den er, wenn er 1901 endgültig zurückkehrt und für Österreich optiert, brauchen wird, um sich mit eigenen Unternehmen im Prater niederzulassen.
Vorher aber wird ein weiteres – und vielleicht das größte aller Wunder Wirklichkeit: Kobelkoff. der »Rumpfmensch«, wird Vater! Sechs gesunde Kinder von durchwegs normaler Statur bringt Anna ihrem Mann zur Welt – und wie es sein Beruf mit sich bringt: jedes an einem anderen Ort. Wo man halt gerade im Engagement ist. Im Wohnwagen des fahrenden Volks, auf Jahrmärkten, hinter Zirkuszelten. Und was den stolzen Vater vollends glücklich macht: Sämtliche sechs Sprößlinge – fünf Söhne und eine Tochter – steigen ins elterliche Metier ein, werden Schausteller. Sohn Paul im Pariser Lunapark, alle anderen in Wien.
Als am 29. Mai 1912 – mehr als zwanzig Jahre vor ihrem Mann – Anna Kobelkoff stirbt, ist ein nicht geringer Teil des Wurstelpraters – Tobogan und Velodrom, Schweinchenkarussell und Wachauerbahn – in der Hand der Kobelkoff-Dynastie, und der Stammvater kann sich endlich von der Bühne zurückziehen und zur Ruhe setzen. Und den Zeitungsleuten, die wieder und wieder bei ihm anklopfen, von seinem schweren, aber durchaus auch freudenreichen Leben erzählen, das ihm damals, als er 1851 als elender Krüppel zur Welt kam, wohl niemand vorauszusagen gewagt hätte. Wer hat ihm nicht alles im Lauf der Jahre für seine Kunststücke applaudiert: Zar Alexander II., König Albert von Sachsen, Königin Wilhelmina von Oranien, der preußische Thronfolger, Reichskanzler Bismarck, Kronprinz Rudolf in Wien.
1899 druckt das »Illustrierte Wiener Extrablatt« den »Roman des Rumpfmenschen«, in Frankfurt erscheint die Buchausgabe: »Beschreibung und Biographie des wunderbarsten Phänomens der Gegenwart«, in Paris greift Sohn Nikolai zur Feder und sorgt mit den »Mémoires de l’Homme-Tronc« für Aufsehen. Zitat aus dem Vorwort: »Seine heitere Laune, seine gesellige Manier lassen uns erkennen, daß wir es bei ihm mit keiner ekelerregenden Monstrosität zu tun haben, sondern mit einem Mann, der sich absolut nicht unglücklich fühlt und infolgedessen sogar eine Lebensgefährtin fand, die ihn durch Vaterfreuden ans Dasein fesselt.«
Geschichten über Geschichten – etwa die von der Dogge, die ihm der dänische König zum Geschenk macht und die ihm, als ihn Wegelagerer überfallen und ihm die Handkasse entreißen wollen, das Leben rettet. Oder von dem Zirkusbrand, bei dem ihn, unter Einsatz des eigenen Lebens, der Kollege Riese aus den Flammen holt. Oder von der neapolitanischen Mafia, die ihm aus Rache für das verweigerte Schutzgeld über Nacht das Zelt in tausend Stücke schneidet.
Schwärzester Horror wechselt ab mit Augenblicken höchsten Entzückens – etwa, wenn Nikolai erfährt, daß er zum erstenmal Vater geworden ist – und Vater eines gesunden Buben! An diesem Freudentag bleibt die Schaubude, in der er auftritt, geschlossen. Und als ihn der berühmte Wiener Chirurg Theodor Billroth zur Untersuchung in seine Klinik einlädt, ist dies für Kobelkoff nichts Entwürdigendes, sondern im Gegenteil eine Auszeichnung, der er sich zeit seines Lebens ebenso rühmen wird wie etwa jenes Kusses, zu dem sich die in Wien gastierende Bühnendiva Sarah Bernhardt hinreißen läßt – aus Bewunderung für die schier grenzenlose Willenskraft, mit der dieser scheinbar armselige Krüppel seinem Schicksal trotzt.
Nikolai Basilowitsch Kobelkoff erreicht das stattliche Alter von zweiundachtzig Jahren, treu umsorgt von den Familien seiner Kinder. In einer Praterhütte, Anbau des von Sohn Alexander betriebenen Ringelspiels, verbringt er seinen Lebensabend. Als er am 19. Jänner 1933 für immer die Augen schließt, geben Hunderte Kollegen und Aberhunderte Wiener Bürger dem Kindersarg, in dem sein Leichnam ruht, auf dem Weg zum Zentralfriedhof das letzte Geleit.
Aus: Wien – Wahlheimat der Genies, 1994
»Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt …«
Alban Bergs Tochter Albine Scheuchl
Erich Alban Berg, 1905 in Wien geboren, ist ein interessanter Mann mit einer höchst wechselvollen Biographie. Statt seine musikalischen Talente als gelernter Pianist und Chorsänger zum Beruf zu machen, absolviert er eine höhere landwirtschaftliche Lehranstalt und wendet sich schließlich dem Exporthandel zu. Doch die Musik läßt ihn keineswegs los, und so sattelt er in späteren Jahren auf Journalismus um: Erich Alban Berg macht sich als Zeitungskorrespondent einen Namen, berichtet für eine Reihe angesehener Blätter über musikalische Ereignisse in Wien, im übrigen Österreich und im Ausland. Sein eigentliches Thema, das ihn zuletzt ausschließlich beschäftigen wird, findet er erst, als er ins Rentenalter eintritt: 1976 erscheint im Insel-Verlag die große Bildbiographie über Leben und Werk seines Onkels Alban Berg.
Im Gegensatz zu Alban Bergs Witwe Helene, die nach dem frühen Tod ihres Mannes, des Schöpfers der Opern »Lulu« und »Wozzeck«, der »Lyrischen Suite«, eines Violinkonzerts und einer Reihe kleinerer Arbeiten, mit unnachsichtiger Strenge das ihr zugefallene Erbe verwaltet und auf die Lebensgeschichte des Verblichenen nicht den geringsten Schatten fallen läßt, ist Erich Alban Berg ein Wahrheitsfanatiker, der bei aller Liebe zu seinem