Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg

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Der lange Weg nach Hause - Kurt von Schuschnigg

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später entscheidende Auswirkungen auf Vater haben sollte. Rudis Mutter Vera war eine geborene Gräfin Czernin-Chudenitz. Sehr jung hatte sie Leopold Graf Fugger-Babenhausen geheiratet. Rudi hatte drei Schwestern, Nora, Rosemarie und Sylvia. Ihre Eltern lebten getrennt, die Mutter in Wien, der Vater in Deutschland. War dieses Arrangement außergewöhnlich, so schien es doch besser, als das ungeschriebene elfte Gebot zu brechen: »Du sollst dich nicht scheiden lassen.« Im katholischen Österreich und in Bayern sprach man dieses Wort nicht einmal leise aus. Das Thema war so tabu, daß ich Rudi niemals danach fragte.

      Mutter und Vera waren ungefähr gleich alt. Beide galten als Schönheiten. Mama hatte leicht gewelltes, kurzes blondes Haar, leuchtende blaue Augen, hohe Wangenknochen und eine vollere Unterlippe, sie war schlank und mittelgroß. Vera, größer und auch blonder, dies freilich etwas weniger natürlich, schien um ihren Mund herum immer zu lachen. Beide waren sie auffallend hellhäutig. Veras hervorstechendes Merkmal aber waren ihre Augen, was weniger an deren Farbe als an der Form lag. Wie große Mandeln sahen sie aus und gaben ihr einen exotischen, fast ein bißchen asiatischen Anstrich.

      Wenn Rudis Schwestern die Ferien bei ihrem Vater verbrachten, wuchs unsere Dreierfamilie durch Rudi und seine Mutter auf fünf Personen an. Im Winter fuhr man Ski, nicht im schicken Kitzbühel, sondern im ruhigeren St. Anton. Das komfortable Hotel Post lag gleich am Ende der Kandaharpiste. Rudi, mein Kinderfräulein und ich wohnten nebenan, in der bescheideneren Dependance, mit dem großen Vorteil, nicht immer unter der Kontrolle der Eltern zu sein.

      Im Sommer gab es unterschiedliche Reiseziele. In der italienischen Stadt Sistiana erlebte ich zum erstenmal, was für ein Draufgänger Rudi war. In dem zutreffend »Grand Hotel« genannten Haus logierten die Eltern und Tante Vera. Rudi, mein gleichmütiges, leicht nachgiebiges Kinderfräulein und ich wurden in einer nahen Pension untergebracht. Dort machten wir uns nach kurzer Orientierung im Haus an die Erkundung der Umgebung. Rudi ließ sich bei einem Teich, in Wahrheit einem mit braunem Wasser gefüllten Loch, zu Boden fallen und erklärte Sistiana zum Altersheim. Zunächst warfen wir gelangweilt Kieselsteine ins Wasser, bis wir bemerkten, daß die Pfütze voller Kaulquappen war.

      »Arme Kleine«, sagte Rudi, »die sind in diesem Dreck gefangen. Wir sollten ihnen ein besseres Zuhause verschaffen« – nämlich in den Wasserkrügen der Gästezimmer. Die Idee war gut, aber mich störte die Angst, bei solcher Untat erwischt zu werden. Die Reaktion meines Vaters war nur allzu leicht vorhersehbar. Rudi hingegen war überzeugt, daß die Sache schlimmstenfalls nicht über das Kinderfräulein hinausgehen werde. Für ihn war das Risiko Teil des Reizes, zumindest solange sich seine Mutter nicht einschaltete, vor deren Zorn er großen Respekt hatte.

      Nachdem wir uns mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut gemacht hatten, arbeiteten wir einen Plan aus. Die Zimmer wurden aufgeräumt, während die Gäste beim Frühstück saßen. Das war der entscheidende Moment. Nachdem wir keine Mahlzeit versäumen wollten, kamen wir am nächsten Morgen schon so früh ins Speisezimmer, daß wir gefrühstückt hatten, als die ersten Gäste auftauchten. Ich lief in unser Zimmer und griff mir den mit Wasser und Kaulquappen gefüllten Krug und ein Zahnputzglas zwecks »Überführung« der Tierchen – und rannte mit beidem direkt in den Bauch der Putzfrau. Irgendwie drängte ich mich an ihr vorbei, traf Rudi im Stiegenhaus, und hinter einem Vorhang auf dem Gang leerte ich das Wasser und ein paar Kaulquappen in das Zahnputzglas. Während die Zimmerfrau sich an ihrem Wäschewagen zu schaffen machte, schlüpfte Rudi katzengewandt an ihr vorbei in ein offenes Zimmer und leerte die Kaulquappen in den Krug auf dem Waschtisch. Zurück hinter den Vorhängen auf dem Gang, bogen wir uns zunächst vor Lachen und warteten auf die nächste Gelegenheit – und da ist es dann schiefgelaufen. Wieder war die Zimmerfrau auf dem Gang beschäftigt, als Rudi und ich mit einem weiteren Glas voll Kaulquappen in das offenstehende Zimmer schlichen. Nur leider: Vom Gang aus bemerkte die Bedienerin in einem großen Spiegel, der gegenüber dem Waschtisch in jenem Zimmer hing, wie ich die kleinen Wesen aus meinem Glas in ihr neues Heim verfrachtete. Obwohl nicht mehr jung, bewegte sich die Frau blitzschnell, und ebenso prompt brannten unsere Hintern. Dann schleppte sie uns, mit kräftigen Händen unsere Nacken fest umschlossen haltend, zu »la Signora«, der Besitzerin der Pension, und diese ließ unsere »Signorina« holen. Auch deren Reaktion fiel höchst unangenehm aus, immerhin zeigte sie uns aber nicht bei den von uns am meisten gefürchteten Autoritäten an.

      Wenn ich im großen und ganzen mit meinen Kinderfräuleins Glück hatte, gab es da doch eine Ausnahme. Frau Soundso, in dem »gewissen Alter« und absolut unerbittlich, war uns von den Nonnen des Katholischen Schulvereins empfohlen worden. Während ihrer dankenswert kurzen Herrschaft sah ich sie nie anders als in Schwarz. Nun ist an schwarzer Kleidung im Prinzip nichts auszusetzen, aber bei Frau Soundso verstärkte das noch ihre an und für sich schon unangenehme Ausstrahlung. Vom ersten Augenblick an wußte ich, dieser Mund mit den kaum sichtbaren Lippen würde nie Schlaflieder singen. Ihr Haar war so eng zusammengebunden, daß es wie aufgemalt aussah, und ihre Adlernase trug nicht dazu bei, den Eindruck von Strenge zu mildern. Als wäre das nicht genug gewesen, gab es da noch diese Augen: kleine, schwarze Knopfaugen mit schweren Lidern. Wenn Frau Soundso mit den Händen im Schoß und den Blick nach unten gerichtet dasaß, war kaum auszumachen, ob sie wach war oder schlief.

      Eines Nachmittags entdeckte ich sie in genau dieser Stellung. Auf dem Tisch neben ihr stand ein Teller Kekse. In der Meinung, sie sei eingenickt, näherte ich mich der regungslos Sitzenden. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören. Als ich aber nach den Keksen griff, schoß ihre knochige Hand schneller als ein Jagdfalke vor und packte mein Handgelenk. Ihr kalter, wimpernloser Blick wirkte auf mich wie der Schlangenbeschwörer auf die unglückselige Kobra. Sie sagte kein Wort. Da schlug die Uhr und weckte mich aus meiner kurzen Trance. Ich riß mich los und rannte so schnell aus dem Zimmer, daß hinter mir Papiere vom Tisch flogen. Sogar schon in Sicherheit glaubte ich noch immer, diese schrecklichen Augen zu spüren, die sich in meinen Rücken bohrten.

      Für Liesl, unsere Köchin, war Frau Soundso zu dünn, als daß in ihrem Körper Platz für ein Herz bliebe. Selbst gut gepolstert, hielt Liesl »dünn« und »unausstehlich« für Synonyme, und mit ihr zweifelte ich nicht, daß das im Fall der Frau Soundso zutraf. Ihre ganze Art war so unangenehm, daß selbst Vater sich in ihrer Gegenwart unwohl zu fühlen schien. Für meinen Teil hatte ich nur fürchterlich Angst vor ihr. Irgendwann machte Mutter, nachdem sie wochenlang still gelitten hatte, dem allen ein Ende und kündigte Frau Soundso, obwohl es ihr an sich schwerfiel, jemanden zu entlassen.

      Und dann erschien Fräulein Alice in unserem Leben, das einzige Kinderfräulein, an dessen Namen ich mich erinnere. Sie war eine von zwei Töchtern guter, hart arbeitender Eltern. Ihr Vater war ein erfolgreicher Tapezierer. Die Familie lebte in einer großen, sonnigen Wohnung in der Neubaugasse. Alice hatte das Sacré-Cœur-Gymnasium in Wien besucht, sprach außer Deutsch auch Französisch und Englisch und war schon in Belgien und England »im Dienst« gewesen. Mittelgroß und von sportlicher Figur, hatte sie kurzes, braunes Haar, das ihre großzügigen, immer leuchtenden braunen Augen betonte. Doch weder dieses ansprechende Äußere noch ihre Erfahrung, schon gar nicht die Empfehlung durch die Klosterschwestern war es, was Fräulein Alice so besonders machte. Sie hatte ein Herz aus reinem Gold. Scheinbar mühelos fügte sie sich in unser Leben ein. Niemand hätte vorhersagen können, wie sehr sie uns verbunden bleiben würde. Ihre außergewöhnlich guten Nerven wurden fast sofort nach ihrer Ankunft auf die Probe gestellt.

      Das schöne Augarten-Palais, Eigentum der Republik, war in Wohnungen für Regierungsvertreter umgewandelt und eine davon meinem Vater zugeteilt worden, der seit Mai 1933 neben dem Justizressort auch noch das Unterrichtsministerium übernommen hatte. Bei soviel Arbeit kam er immer erst spät nach Hause und war dort nie lang genug, um das großzügige Palais und den umliegenden Park zu genießen. Mutter, Fräulein Alice und ich taten das um so regelmäßiger. Nicht nur war die neue Wohnung doppelt so groß wie jene auf der Mariahilfer Straße, plötzlich gab es ringsherum Bäume und Gärten. Fräulein Alice und ich kamen endlich wieder an die frische Luft, während die Parkanlagen in der Nähe unserer früheren Wohnung seit den Konflikten zwischen Heimwehr und Schutzbund für uns zu verbotenen Zonen geworden waren.

      In

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