Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg

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Der lange Weg nach Hause - Kurt von Schuschnigg

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versuchte, jemanden oder etwas zu erkennen. Für mich war am ärgsten, nicht mehr im offenen Auto, dem »Landauer«, meinem Lieblingsverkehrsmittel, durch die Stadt fahren zu dürfen. Ich betete, daß diese lästige Beschützungsphase bald vorübergehen möge.

      Diese Nacht wurde nie mehr erwähnt. Das wurde uns dadurch leichter, daß wir unsere frisch reparierte Wohnung nicht mehr lang benützen würden. Man hielt es nach dem Geschehenen für problematisch, daß jedermann so leicht an die Residenz des Bundeskanzlers – das war Vater ja jetzt –, herankam. So wurden wir in das ehemalige Kriegsministerium »verfrachtet«, das riesige, auf mich um so mächtiger und abweisender wirkende Regierungsgebäude an der Ringstraße.

      Vater sorgte sich weiter um die Sicherung der österreichischen Unabhängigkeit. In der dritten Augustwoche 1934 fuhr er das erste Mal als Bundeskanzler nach Italien, um Mussolini daran zu erinnern, daß Österreich auf seine Unterstützung vertraute.

      Kaum drei Wochen später stand der Bundeskanzler vor den Repräsentanten des Völkerbundes in Genf, beschrieb kurz die geographische und historische Position seines Landes in Europa und betonte einmal öfter die Bedeutung eines unabhängigen Österreich. Er bat um Verständnis für die Reaktion der Bundesregierung auf die Krisen des 12. Februar, den Putschversuch des Schutzbundes, und des 25. Juli, die Ermordung von Dollfuß. Er machte deutlich, daß er keine Rache hege gegen die »Feinde von gestern«. Österreich wolle nur in Frieden seinem Schicksal folgen. Wer aber versuche, die österreichische Wirtschaft zu schädigen, würde bestraft, sagte er. Schließlich gestand er zu, daß die derzeitige Regierungsform Österreichs, der »Ständestaat«, Demokratien wie England oder Frankreich, fremd sein möge. Diese Art Demokratie aber sei in Österreich noch sehr jung und ebenso fremd. Das zentrale Thema, unabhängig von der Regierungsform, sei jetzt die Unabhängigkeit des Landes.

      Bevor noch der September zu Ende ging, lag eine gemeinsame Erklärung Englands, Frankreichs und Italiens vor, mit der die Unabhängigkeit Österreichs bekräftigt wurde.

      In seinem Wunsch nach Sicherheit war Österreich aber keinesfalls allein. Das zeigte der Wien Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten Gyula Gömbös. Anfang November, weniger als zwei Wochen später, und nach weiteren Gesprächen mit Mussolini, reiste der Bundeskanzler nach Budapest. Der Bau einer »Feuermauer« zwischen Österreich und Deutschland war das Erfordernis der Stunde.

       Im Kriegsministerium

      Erst nach 1900 als Kriegsministerium für die Doppelmonarchie errichtet, füllte das Gebäude einen ganzen Häuserblock. Die Räume dort sind fünfeinhalb Meter hoch. Vor unserer Wohnung war einer jener Marmorgänge, die das riesige Haus durchschnitten, breit genug, um Fahrrad- oder Rollschuhfahren zu können, ohne an Vaters Ordonnanzen auch nur anzustreifen, dem stämmigen Defregger und dem ebenso ansehnlichen Gsaller. Sogar für meinen aufgeweckten neuen vierbeinigen Freund Purzel blieb Platz. Die Eltern hatten endlich dieser von mir lang ersehnten Erweiterung unserer Familie zugestimmt. Nichts hätte mich glücklicher machen können. Purzel war sogar noch besser als eine kleine Schwester oder ein kleiner Bruder, denn da hätte ich doch ziemlich lange warten müssen, bis die zu einer »Gesellschaft« für mich geworden wären. Von Anfang an war klar, daß diesem schwarzen Pudel nicht bewußt war, ein Hund zu sein. Er hielt sich für einen von uns, als Hund verkleidet. Obwohl noch als Welpe ins Haus gekommen, war er schon stubenrein, vermutlich Mutters Bedingung. Ich war ein sehr glücklicher kleiner Bub.

      Riesige Fenster boten aus unserer Wohnung Ausblick auf den Stubenring. An sonnigen Tagen war das Gebäude von Licht durchflutet und lud zu Erkundungen ein. Hatte ich die Wiesen und Gärten des Augartens mit dem innerstädtischen Kriegsministerium, wie es immer noch genannt wurde, getauscht, so gab es doch einen Ausgleich: Das Gebäude und seine Höfe galten als »sicher« für mich, ich durfte dort nach Belieben tun und lassen. So durchstreifte ich ständig das höhlenartige Gebilde, mit Purzel als einzigem Begleiter. An dunklen Wintertagen, wenn die enormen Räume voll einsamer, bedrohlicher Schatten schienen, wandte ich mich meinen Legionen von Spielzeugsoldaten zu – Infanterie und Kavallerie aus allen Teilen Europas, Dragonern in ihren roten Uniformen mit gelben Epauletten, weißen Hosen und hessischen Stiefeln, blau gewandeten kaiserlichen Offizieren mit purpurroter Schärpe, säbeltragenden Unteroffizieren und auch britischen Grenadieren und Füsilieren mit ihren Bärenfellmützen. Sie alle hatten würdige Gegner aus allen Waffengattungen der napoleonischen Armeen. Sogar die gußeisernen Russen fanden ihre Verwendung.

      Wurde ich ihrer überdrüssig, beschäftigte ich mich mit meinen Briefmarken, die ich aus aller Herren Länder sammelte. Das größte Juwel, ein für mich völlig unerwarteter Zugewinn, war ein kompletter Satz italienischer Erstausgaben, ein Geschenk Benito Mussolinis. Bevor ich das Paket aufmachen durfte, wurde mir feierlich die Einzigartigkeit des Anlasses nähergebracht. Einmal mußte Vater über seinen Schatten springen, denn ein Geschenk des Duce für ein Kind abzulehnen, wäre einer Beleidigung gleichkommen.

      Manchmal fragte ich mich, ob meine Eltern je realisierten, daß »geh in dein Zimmer« für mich gar keine Strafe bedeutete, denn dort hatte ich meinen Hund, meine Zinnsoldaten und die Briefmarkensammlung. An einem sonnigen Tag – Purzel war zum Tierarzt gebracht worden – durchstreifte ich allein das riesige Gebäude. Am Anfang eines Korridors beginnend, öffnete ich Tür um Tür, sah große und kleine Salons, Besprechungsräume, verschiedene Büros, Kammern, Kästen und einen schönen Ballsaal in Neo-Rokoko. Hinter der nächsten Tür, ob des unerwarteten Besuchers überrascht und nicht wirklich erfreut, hob Handelsminister Fritz Stockinger den Blick zu mir. Er war wohl etwas erschrocken, und seine Reaktion hatte bedauerliche Folgen. Seine abrupte Bewegung schreckte ein Perserkätzchen auf, das ruhig auf einem Tisch gelegen hatte, mit einem Satz sprang es auf den mit Unterlagen und Dokumenten bedeckten Ministerschreibtisch und warf ein großes Tintenfaß um. Minister Stockinger saß wie gelähmt und blickte auf den blauen Tintenstrom, der sich immer mehr ausbreitete. Einen Fluch unterdrückend, zog er sein Taschentuch heraus, um die Flut einzudämmen, griff mit der anderen Hand nach dem Papierkorb und hielt ihn unter die Tischkante, von der jetzt die Tinte herunterrann. Ich erstarrte und sah schweigend zu. Mit nicht ganz unerwarteter Geistesgegenwart – einer Gabe, die ihm schon nützlich gewesen war, als er das erste Attentat auf Dollfuß im Oktober 1933 verhindert und den Attentäter überwältigt hatte – hob er mit hochrotem Kopf das Kätzchen auf und bewegte sich auf das halboffene Fenster zu. Sein Gesicht sah jetzt aus wie das eines Mannes mit einem viel zu engen Kragen.

      »Bitte, tun Sie ihm nichts!«, schrie ich auf.

      Er drehte sich zu mir. »Willst du das Vieh? Da hast du’s. Und raus hier, sofort!«

      Ich dankte hastig, flüchtete mit dem Kätzchen in unsere Wohnung, und nachdem ich das Tier beruhigt hatte, überlegte ich, wie meine Eltern diesen Zwischenfall aufnehmen würden.

      »Denk an Purzel, Kurti. Hunde und Katzen sind keine natürlichen Freunde«, erklärte mir Mutter beim Mittagessen, »so wurden sie einfach geschaffen. Den Frieden zwischen ihnen zu erhalten, grenzt ans Unmögliche.«

      »Bitte laß es mich versuchen, Mutter. Minister Stockinger ist so blau angelaufen wie diese Zwetschken, so böse war er. Er hat Pinpin fast aus dem Fenster geworfen.«

      »Schatz, Minister Stockinger hätte das bestimmt nicht getan. Wenn man ihn nicht ärgert, ist er sehr nett«, seufzte sie. »Na gut, aber es ist deine Sache, wie Purzel und Pinpin getrennt werden, ganz egal, wie du das machst. Klar?«

      Nach einer Umarmung, die so stürmisch war, daß sie fast vom Sessel gefallen wäre, lief ich weg, um alles zu arrangieren. Zuerst die Wohnräume. Purzel war der Ranghöhere, ich konnte ihn nicht einfach aus meinem Zimmer verbannen, um für den Emporkömmling Platz zu machen. Pinpin mußte in die Küche und Liesl Gesellschaft leisten. Die mochte Tiere.

      »Was? Eine Katze in meiner Küche? Auf keinen Fall! Ich

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