Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg

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Der lange Weg nach Hause - Kurt von Schuschnigg

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Staatspolizist ins Auto. Er greift nach mir und streicht meine Haare zurück. Sein Gesichtsausdruck ist grauenvoll und seine Augen … seine Augen sind tot. Er nimmt meine Hand und hält sie mit beiden Händen. Dann fühle ich nichts mehr.

      Viel später wachte ich im Linzer Krankenhaus der Barmherzigen Brüder wieder auf. »Du warst so ein tapferer Bub«, sagte Fräulein Alice, die zum hundertsten Mal in zwei Wochen mein Bettzeug richtete. »Bald fahren wir nach St. Gilgen. Liesl sagt, daß es dort einen See voller Fische gibt, die nur darauf warten, von dir herausgeholt zu werden, damit sie sie zum Abendessen kochen kann. Du kannst deinen eigenen Fisch essen.« Endlich ein glücklicherer Gedanke als die meisten anderen, seit ich mich wieder konzentrieren konnte. Die Schnittwunden auf meiner Stirn und meiner Wange sahen schon ein bißchen besser aus. Mein Gesicht war zwar unbeweglich, tat aber nicht sehr weh. Der Primarius stand an meinem Bett. Nachdem er wieder einmal sein eiskaltes Stethoskop an meine widerstrebende Haut gedrückt hatte, erklärte er sich mit meinen Fortschritten zufrieden. »Ich bin sehr erleichtert, daß keine wichtigen Muskeln durchtrennt wurden. Dir ist klar, daß du ein kleiner Bub mit großem Glück bist. Diese Glastrennwand, die auf dich draufgefallen ist, hätte viel mehr Schaden anrichten können. Dein Schutzengel muß auf deiner Schulter gesessen sein, junger Mann.« Er war ein netter Arzt, und er wollte mich aufmuntern. »Herr Doktor«, sagte ich, »mir wäre lieber gewesen, er wäre auf der Schulter meiner Mutter gesessen.«

      Von uns sechs, die wir an dem Morgen im Auto gesessen hatten, waren nur Vater und Fräulein Alice relativ unverletzt geblieben. Ihre Engel hatten anscheinend Überstunden gemacht. Fräulein Alice hatte nur Genickschmerzen und zerrissene Kleider. Vater war aus dem Wrack hinausgeschleudert worden. Außer ein paar Prellungen hatte er keine Verletzungen davongetragen. Seine Wunden waren in seinem Inneren. Der Schmerz um Mutter überwältigte ihn. Der Verlust des Glanzes, den sie ausgestrahlt hatte, setzte ihm mehr als alles andere zu. Nach außenhin ließ er sich nichts anmerken und ging weiter seinen Regierungsgeschäften nach. Die schwarze Armbinde, die er trug, war das einzige öffentliche Zugeständnis an seine privaten Gefühle. An den Wochenenden brachte er seine unermeßliche Trauer mit nach St. Gilgen. Nur selten schluchzte er auf, wenn er nachts allein in seinem abgedunkelten Zimmer saß. Über den Unfall sprach er nicht, aber aus den schwarzen Ringen um seine Augen kam immer dieselbe, unausgesprochene und unmöglich zu beantwortende Frage, die auch ich mir stellte: »Warum sie?«

      Von Fräulein Alice hörte ich, daß die Polizei bei der Untersuchung des Unfalls mit dem Fahrer begonnen hatte, mit Tichy, der wie der Staatspolizist, der neben ihm im Auto gesessen hatte, noch im Krankenhaus lag. Man wußte, daß Tichy einen tadellosen Lebenswandel führte. Er war ein Gewohnheitstier, sein Tagesablauf änderte sich nie, außer wenn er krank war. War Tichy je krank gewesen? In den beiden Jahren, seit er bei uns war, hatte er keinen einzigen Arbeitstag ausgelassen. Er schien bei bester Gesundheit. Am Nachmittag vor dem Unfall, auf dem Heimweg vom Kriegsministerium, war er im selben Gasthaus wie an jedem anderen Tag eingekehrt und hatte sich laut dem Wirt das übliche eine Glas Bier genehmigt. Der freundliche, verläßliche, besonnene und höfliche, einfach gute Mensch war auch in dem Gasthaus beliebt. Tichy kam also am späten Nachmittag des 12. Juli in die Wirtschaft, trank ein Bier, verließ sie aber erst um drei Uhr in der Nacht. Der Wirt sagte aus, das Bier wäre ihm von einem Fremden spendiert worden. Nachdem er bemerkt hatte, daß Tichy wie bewußtlos auf dem Tisch lag, habe der Wirt wiederholt aber erfolglos versucht, ihn zu wecken. Schließlich ließ man ihn ungestört bis zur Sperrstunde schlafen. Und dann noch mußte das Personal zu harten Mitteln greifen: Man begoß ihn mit kaltem Wasser, Tichy kam endlich zu sich und ging nach Hause, wo er gerade noch genug Zeit hatte, sich zu duschen und umzuziehen. Um fünf Uhr war er beim Kriegsministerium gestellt und half beim Beladen des Autos für die Ferien in St. Gilgen.

      Tichy war überaus stolz auf seine Stellung als Fahrer des Bundeskanzlers und grenzenlos loyal. Denkbar ist, daß sein bis ins Detail geregelter Tagesablauf ihn zu einem bequemen Ziel für einen Anschlag machte. Der Polizeipräsident wollte nicht ausschließen, daß Tichy schon seit einiger Zeit beschattet worden war. Hatte er die bevorstehende Reise irgend jemandem gegenüber erwähnt? In seinem Stammlokal? Ein paar Tage vorher? Sowohl Marxisten als auch Nazis standen der Regierung, also auch Papa, in erbitterter Feindschaft gegenüber. Die Annahme lag nahe, daß sich jemand am bewußten Nachmittag an Tichys Bier zu schaffen gemacht hatte. Es gab keine andere Erklärung für den Zwischenfall im Gasthaus, als dessen Folge der Chauffeur, der aus Pflichtgefühl nicht zugeben mochte, völlig übermüdet zu sein, am hellichten Tag mit hoher Geschwindigkeit von der Straße abkam und in einen Baum fuhr. Nach der Ermordung von Dollfuß und dem Angriff auf das Augarten-Palais fiel der Verdacht unweigerlich auf die Nazis. Das aber zu beweisen, war eine andere Sache.

      Fräulein Alice tat alles, um meine körperliche und seelische Heilung zu beschleunigen. In einer nahegelegenen Pension nahm sie ein Zimmer, um den ganzen Tag bei mir im Krankenhaus sein zu können. Auch Vater und Großvater Schuschnigg haben mich wiederholt besucht. Während Vater unfähig war, über den Hergang der Tragödie zu sprechen, hatte Fräulein Alice einen ganz anderen Ansatz: Sie drang sofort zum Kern des Problems vor. »Kurti«, sagte sie, »es ist wichtig, daß du weißt, daß deine Mutter nicht gelitten hat. Als das Auto in den Baum krachte, prallte ihr Nacken auf den Rand des offenen Daches. Das brach ihr sofort das Genick. Der Arzt sagt, daß sie keine Schmerzen gefühlt haben kann. Es war für sie wie ein schnelles Einschlafen. Und als sie aufwachte, war sie im Himmel. Ich weiß, das ist schwer, aber du mußt immer versuchen, es dir so vorzustellen.«

      Ich hoffte, daß das mit den Schmerzen stimmte. Nur den Vergleich zwischen ihrem Tod und dem Einschlafen konnte ich kaum ertragen. Meine Traumbilder, der verbogene Metallhaufen, der einmal unser schwarzer Landauer gewesen war, das weiße Leinenkleid, das sich in der leichten Morgenbrise bewegte, die beiden Polizisten, die meine schöne, zerbrechliche, tote Mutter in den Armen hielten – wie lange würde ich das noch sehen müssen?

      Vater, Großvater und Fräulein Alice waren bei Mutters Begräbnis in Wien. Großmutter Schuschnigg war schon krank und konnte nicht teilnehmen. Sie starb kaum sechs Wochen später. Mir wurde versprochen, daß Vater und Großvater mich zu Mutters Grab begleiteten, sobald ich wieder ganz gesund war. Bis dahin versuchte Fräulein Alice, meine Stimmung zu heben. Es war manchmal sehr deprimierend. Sie beschrieb mir die Trauerfeier in allen Einzelheiten, und pflichtbewußt schaute ich die mir ins Krankenhaus gebrachten Fotos an. Ein Besuch am Friedhof hätte mich nicht trauriger stimmen können als diese schwarz-weißen Bilder und lange konnte ich den Gedanken nicht ertragen, daß Mutter dort in der dunklen, kalten Erde lag.

      Großvater holte Fräulein Alice und mich ab. Die netten Leute im Krankenhaus wünschten mir alles Gute. Die Ärzte tätschelten meinen Kopf und die Schwestern murmelten tröstende Worte. Und da hatte ich plötzlich den ersten fröhlichen Gedanken seit meiner Ankunft im Krankenhaus: Wenigstens eine Zeitlang würde mich jetzt niemand mehr mit Schokolade, Grießbrei und derlei Scheußlichkeiten vollstopfen. Zumindest momentan war ich unangreifbar. Der Primar hatte mir zum Abschied gesagt, meine Gesichtsnarben würden mich einmal vornehm aussehen lassen. Ich bezweifelte das.

      Mehr noch als meine Verletzungen hatten die Fürsorglichkeit, das dauernde, nicht nachlassende Mitleid mir das Leben im Krankenhaus unerträglich gemacht. Der anschließende Ferienaufenthalt in St. Gilgen war eine große Erleichterung. Dort hatte ich Purzel. Er war fröhlich, unkompliziert, leicht zu durchschauen, entweder glücklich oder hungrig. Und es gab da den Rest der Familie: Vater, Fräulein Alice, Liesl und sogar die Staatspolizisten, die über das Grundstück verteilt waren. Sie gehörten ebenso zum ganz normalen Alltag wie Liesl oder Major Bartl.

      Unsere Zuflucht am Wolfgangsee, Mutters Entdeckung, war eine massige, schöne und erstaunlich große Villa am Seeufer. Wie in anderen dieser um die Wende zum 20. Jahrhundert errichteten Häuser gab es mehrere Stockwerke, die Fassaden waren in heller Cremefarbe mit zimtbraunen Fensterläden gehalten. An zwei Stockwerken gab es Balkone. Die Sicherheitsbeamten schätzten es, daß die einzige Straße hinter dem Haus vorbeiführte. Von dort aus wirkte die in den Hang gebaute Villa bloß einstöckig mit verkürztem Oberstock unter niedrigem Dach. Ganz anders von der Seeseite, da hatte der zweite Stock

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