Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg

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Der lange Weg nach Hause - Kurt von Schuschnigg

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alles.

      Es war die Rache aller »Schatten« für unentdeckte Lausbübereien, für ihre endlosen Wartestunden in der Kammer in der Schule, für die akrobatischen Sprünge hinter Bäume, Zäune und alle möglichen Fahrzeuge. Seit jener frühen Erfahrung mit der ruinierten Spielzeugbank und der Krampusrute war mir die Prügelstrafe erspart geblieben. Jetzt ließ ich kaleidoskopartig das ganze Durcheinander dieses Nachmittags an meinem inneren Auge vorbeiziehen und erwartete das Kommende. Es geschah … nichts! Vater sah mich nur mit dem mir bekannten strengelterlichen Blick an und die Länge der folgenden Strafpredigt brach alle Rekorde. – Ganz anders, und dennoch bei aller Kürze ebenso prägnant, Fräulein Alice, als sie mich anschließend zu Bett brachte: »Dein unüberlegter Streich hätte zu noch viel ernsteren Schäden führen können.« Hätte? Hatte er ja, denn meine Schlange war tot.

      Das Lebensgefühl im Kriegsministerium war ein ganz anderes geworden, als wir zu Ende der Sommerferien nach Wien zurückkehrten. Ein paar Wochen nach Mutters Begräbnis starb Großmutter Schuschnigg. Vater und ich hatten innerhalb weniger Wochen unsere Mütter verloren. Großvater, auch er nun Witwer, zog zu uns. Vaters Adjutant Georg Bartl, der zum Oberstleutnant befördert worden war, lebte schon, seit Vater Bundeskanzler geworden war, in unserer großen Wohnung. Obwohl er in Wien Frau und Kind hatte, erwies sich das für alle Beteiligten als bequemer. Wir waren also ab Herbst 1935 praktisch ein Männerclub, zu dem nur Fräulein Alice und Liesl die weibliche Note beitrugen.

      Mitte September 1935 erließ Deutschland die Nürnberger Rassegesetze. Im Oktober begann Italien seinen Eroberungsfeldzug in Abessinien und näherte sich in der Folge rasch dem Deutschen Reich an. Damit geriet Österreichs einziger politischer Rückhalt ins Wanken. Der amerikanische Gesandte, George Messersmith, berichtete, daß Österreichs unmittelbare Zukunft von seiner Abhängigkeit vom Schutz und der wirtschaftlichen Hilfe Italiens beherrscht würde. Das Land würde zwar die Unterstützung Englands und Frankreichs vorziehen, doch diese Staaten beschränkten sich darauf, Italien in Österreich freie Hand zu lassen, solange der Status Quo unangetastet bleibe. »Die Österreicher werden folglich von Frankreich und England in diese weitgehende Abhängigkeit von Italien gedrängt.«

      Im Bemühen um Beruhigung an der Heimatfront wurde zu Weihnachten 1935 eine großzügige Amnestie verkündet. Von 1521 Sozialdemokraten, die nach dem 12. Februar 1934 verhafteten worden waren, kamen 1505 ebenso frei wie 440 der nach dem 25. Juli 1934 eingesperrten 911 Nationalsozialisten. Wie viele von diesen würden zu Wiederholungstätern werden?

      Aber auch in Vaters Privatleben kündigten sich in Gestalt zweier Damen der Wiener Gesellschaft Veränderungen an. Auf der einen Seite »Tante Zoë«, Baronin Zoë von Schildenfeld, groß, eindrucksvoll, gebieterisch – und unverheiratet, auf der anderen »Tante Vera«, Mamas Freundin und Rudi Fuggers Mutter. Sie stand kurz vor der Annullierung ihrer Ehe mit Leopold Graf Fugger-Babenhausen durch die katholische Kirche. Ich war wahrscheinlich der einzige in Wien, dem das Konkurrenzverhältnis der beiden Damen verborgen blieb, von der möglichen »Trophäe« einmal abgesehen. War Vaters Leben bisher kompliziert genug gewesen, so doch ein Spaziergang im Vergleich zum jetzt Bevorstehenden.

      Ein Aspekt im Leben eines Kindes ist Größe – oder der Mangel an Größe. Stehen in einem Raum genug große Möbel herum, so kann man ihn als Kind fast unbemerkt betreten. Eines Tages gelang mir genau das. Auf der Suche nach Fräulein Alice sah ich sie in der Küche auf einem Hocker sitzen. Liesl widmete ihre Aufmerksamkeit einem Berg Teig. Keine der beiden bemerkte mein Verschwinden hinter einem großen Küchenkasten, als ihr Gespräch über Papa, Tante Zoë und Tante Vera meine Neugier weckte. Zwischen Töpfen und Pfannen lauschte ich still, ohne mich zu schämen. Fräulein Alice schwieg und notierte den Tagesablauf, Liesl redete für beide.

      »Es gibt keinen Anlaß, weder einen Musikabend noch ein Abendessen, bei dem nicht eine von beiden anwesend ist. Gestern Abend« – Liesl holte tief Luft – »war ich fast sprachlos (sie war nie sprachlos!), daß sie beide da waren, die Baronin Schildenfeld an einem Ende des Tisches und die Gräfin Fugger am anderen. Das muß anstrengend gewesen sein.« Eine weitere Pause, dann, in ruhigerem Ton: »Der arme Kanzler hat keine Chance. Eine von ihnen wird es schließlich schaffen. Merk dir, was ich gesagt habe.« Sie war am Ende ihres Monologs. Neugierig schaute ich um die Ecke. Liesl sah Fräulein Alice an.

      »Ja«, sagte diese endlich, ohne den Blick von ihrem Notizbuch zu heben. »So etwas ist zu erwarten.« Sie unterbrach sich und schaute Liesl scharf an. »Aber man muß es ja nicht unbedingt bemerken.«

      Liesl ließ sich nicht vom Thema abbringen. »Aber die Gräfin Fugger hat sicher einen Vorteil, weil die Buben so gut befreundet sind. Ich frage mich, warum die Baronin Schildenfeld nichts gegen ihre grauen Haare tut. Sie schaut älter aus als meine eigene Mutter.« Da hatte Liesl recht. »Wenn du mich fragst, ist der kleine Rudi Fugger ein perfekter Vorwand, um hier auf Besuch zu kommen.« Liesls Gedanken, vom Teigkneten abgelenkt, sprangen herum wie Frösche. »Da gibt es keinen Zweifel. Am Ende macht die Gräfin Fugger das Rennen. Merk dir das. Sie liegt ganz klar vorne.«

      Fräulein Alice fühlte sich provoziert, zeigte ihren Ärger zwar noch nicht, aber ich kannte sie. Es fehlte nicht viel. Wie wir alle mochte sie Liesl. Trotzdem ließ sich am Ton ihrer Stimme ihr Unwillen erkennen, über dieses Thema zu diskutieren. Ich kannte den Ton. Sie schlug ihr Notizbuch zu und sagte nur: »Genug davon!«

      Liesl verstand, das Thema war erledigt. Sie zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich auf ihren Teig. Lautlos, wie ich gekommen war, verschwand ich wieder. Im übrigen empfand ich es höchst ärgerlich, solche für mich immerhin lebenswichtige Informationen nur so zufällig erhascht zu haben.

      Anders als in den vergangenen Jahren nahm ich Weihnachten und Neujahr nur verschwommen wahr, obwohl Vater, Großvater, Fräulein Alice und Liesl alles versuchten, um uns zu beschäftigen und von traurigem Grübeln abzuhalten. Ein Termin jagte den anderen. Tagsüber tollte ich mit meinen Freunden herum, am Abend fiel ich todmüde ins Bett. Meistens wachte ich mit einem Salamibrot in der Hand oder auf dem Nachtkastl auf. Wenn ich Vater manchmal tagelang nicht zu Gesicht bekam, war dieses Brot doch der Beweis, daß er nach mir gesehen hatte, und ich betrachtete es als Gegengabe für die Fische, die ich für ihn in St. Gilgen gefangen hatte.

       Herumgereicht

      An einem der ersten Frühlingstage des Jahres 1936 holte mich Fräulein Alice mit einer großen Überraschung von der Schule ab. Am selben Morgen, ich war schon auf dem Weg in die Schule, war ein Trupp Möbelpacker im Kriegsministerium eingefallen und hatte unseren Haushalt ins Belvedere übersiedelt, genaugenommen in das ehemalige Gärtnerhaus, nicht in das Palais. Der Eingang lag schräg gegenüber dem Südbahnhof am Landstraßer Gürtel. Dort bogen wir ein und folgten der Auffahrt bis zu einem schönen, einstöckigen Haus, dessen unauffällige Fassade in bemerkenswertem Widerspruch zum beeindruckenden Interieur stand. Zunächst kam man in ein ovales Foyer mit schwarzweißem Marmorboden. Die mit gelbem Damast bespannten Wände wurden von Pilastern unterbrochen, die den hohen Plafond trugen. Geflügelte Steinfiguren bewachten den Eingang. Fragend sah ich Fräulein Alice an. »Warte nur, bis du den Rest siehst«, sagte sie lachend und führte mich in den nächsten Raum. »Wir fangen nicht ohne Grund hier an. Ich möchte dir etwas ganz Besonderes zeigen.« Ein Flügel, der fast das ganze Parkett bedeckte, stand auf einem Perserteppich von ungeahnten Dimensionen.

      Durch eine Reihe französischer Fenster hinter dem Klavier schien die Sonne herein, das Licht spiegelte sich im Luster und fiel auf eine Empire-Sitzgarnitur und Tische mit marmornen Platten. »So symmetrisch und schön das hier auch ist, was ich dir zeigen möchte, ist dort.« Sie ging zu einem stattlichen, alten Wandschrank und öffnete mit einer feierlichen Geste eine der Türen. Dahinter war … nichts. Sie stieg in den Schrank. »Kurti, jetzt mach die Tür gut zu und zähl bis zehn. Schau nicht weg, blinzle nicht einmal. Wenn du bei zehn bist, öffne die Tür wieder. Verstanden?« Es hätte ein Schlüsselloch in der Tür geben müssen,

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