Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg

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Der lange Weg nach Hause - Kurt von Schuschnigg

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untergehende Sonne die Wolken in Schattierungen von rosa bis orange färbte und Schwalben in der anbrechenden Dämmerung jagten, bis schließlich der Mond hinter den Bergen aufstieg. Manchmal waren die Gipfel von Schafberg und Zwölferhorn wolkenverhangen. Es war friedlich und ruhig. Nur die Enten, die Grillen und das Plätschern der Wellen am Bootssteg waren zu hören und von hinten die aus den Bergen stürzenden Wildbäche.

      Kam Vater am Wochenende aus Wien, war sein Gemütszustand das große Thema für die beiden Menschen, die uns am nächsten standen. Von meinem Balkon aus konnte ich zuhören, wie Liesl weiter unten mit Fräulein Alice sprach: »Alice, das ist schrecklich. Wie lange, glaubst du, geht das noch so weiter? Ich hoffe nur für den Buben, daß sich da etwas ändert.« Fräulein Alice seufzte. »Weißt du, Liesl, er hat sie angebetet. Und zusätzlich zu ihrem Tod war noch Kurtis Verletzung ein schwerer Schlag. Wenn der Kanzler in der Öffentlichkeit ist oder mit seinen Mitarbeitern, geht es ihm besser. Na ja, du weißt, was ich meine. Hier, wenn er abends in sein Zimmer geht, sitzt er nur da im Dunkeln. Ich mache mir Sorgen.«

      Auch ich machte mir diese Sorgen, sehnte mich danach, wieder ein wenig Glück, etwas Licht in seinen Augen zu sehen. Fast wäre er mir wütend lieber gewesen als so. Ich kannte seine Wut, sie kam, explodierte und verging wieder. Diese Leblosigkeit dagegen war fürchterlich. Einmal traf ich ihn auf dem Balkon sitzend, kurz vor dem Abendessen. Es war einer der seltenen, wunderbaren Augenblicke, an denen er allein war. Ich ging auf seinen Sessel zu. Er bemerkte mich nicht, starrte hohläugig auf den See, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Ich bedeckte seine Augen mit meinen Händen und rief: »Papa!« Er griff hinauf, entfernte meine Hände und lächelte dieses traurige Lächeln, das ich schon zu gut kannte. Es war, als hätte ihn alles Glück verlassen.

      Die Tage in unserem Haus verliefen jetzt so, als wolle man ein Auto mit einem kaputten Rad fahren. Es rührt sich zwar irgendwie, aber es war für niemanden angenehm. Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus zwang man mich zur Nachmittagsruhe. Fräulein Alice öffnete die Fenster zum Balkon, drückte mir einen Kuß auf die Stirn und schloß die Tür zum Gang hinter sich. Von Zeit zu Zeit flog eine fette, faule Fliege ins Zimmer. Die Balkontür hatte eine große Glasscheibe. In einem bestimmten Winkel geöffnet, spiegelten sich in ihr die Blumenkästen vor den Fenstern. Ich lag da inmitten der Spiegelbilder roter und weißer Geranien und ihrer dunkelgrünen Blätter, und wieder einmal fiel mir ein, wie sehr das alles an mir verschwendet war. Es war Mutter gewesen, die gerne von Blumen umgeben war. Ich ertrug sie wie eine Strafe, von der ich nicht wußte, womit ich sie verdient hatte.

      Nur langsam änderte sich der Lebensrhythmus an den Wochenenden. Es begann mit dem Besuch von Verwandten und Freunden. Später kamen Regierungsvertreter dazu, wenn auch nicht im selben Ausmaß und mit dem ganzen Troß an Mitarbeitern, wie ich es aus Wien kannte. Die Atmosphäre begann sich zu lockern.

      »Fräulein Alice, wen hat Vater dieses Wochenende mitgebracht?«

      »Na ja, schauen wir einmal: Dr. Pernter ist da. Er hat einen der früheren Posten deines Vaters, Unterrichtsminister. Weißt du noch? Den magst du. Und Dr. Buresch, der Finanzminister. Ihre Mitarbeiter sind auch da, wohnen aber im Hotel. Schließlich natürlich Major Bartl. Zwei Freunde deines Vaters mit ihren Frauen kommen heute auch noch, aber nur zum Abendessen.«

      Nach dieser Aufzählung überlegte ich mir bereits einen Protest. Nur mußte man da mit Fräulein Alice vorsichtig sein. Manchmal wandte sie den »Du bist schon zu alt, um dich so zu benehmen«-Trick an. Damit wurde es immer schwieriger, sich wirkungsvoll zu beschweren. Doch an jenem Tag konnte ich mich nicht zurückhalten. »Ah so, gut …« – wenn man ihn nicht übertrieb, war Sarkasmus keine üble Lösung beim Umgang mit Erwachsenen – »… das Wochenende wird also wirklich lustig.« Ich wartete gespannt, ahnte, was jetzt kam: »Kurti, du weißt, daß dein Vater unmöglich alles erledigen kann, ohne hier an den Wochenenden zu arbeiten. Du bist ein bißchen selbstsüchtig. Das paßt nicht zu dir. Was du aber noch nicht weißt: Gleich nach dem Mittagessen soll ich dich am Bootssteg abliefern, dann möchte dein Vater mit dir rudern.« Sie verkündete diese Nachricht triumphierend, die Hände auf die Hüften gestützt und mit leicht nach vorne geneigtem Kopf. Vor lauter Aufregung warf ich meinen Sessel um. »Wirklich, Fräulein Alice?« – »Ja, wirklich«, sagte sie lachend.

      »Fräulein Alice, ich werde Vater über den ganzen Wolfgangsee rudern. Ich hole die Würmer und Angelruten.«

      »Keine Würmer und Angelruten, Kurti.«

      »Na gut.«

      Ich ruderte so kräftig, daß es mich selbst überraschte. Vater war zufrieden, und das war mir Lohn genug. Wie schön war es, ihn ganz für mich zu haben und ihn als fast wieder normal zu erleben. Fröhlich plapperte ich über nichts Bestimmtes. Vater hatte andere Gedanken. Er verwies auf Themen, über die man ernst nachdenken müsse. Wenn es auch wichtig sei, kräftig zu sein, sei es noch viel wichtiger für uns, geistig voranzukommen. Ich sei »in beidem ziemlich gut«. – »Mein Sohn, die Dinge können nicht immer so sein, wie wir sie uns wünschen, nicht einmal, wenn wir uns gute Dinge wünschen.«

      Ich wußte, daß er Mutter meinte.

      »Wir müssen dankbar sein für das, was Gott uns schenkt, egal, wie lang diese Geschenke uns bleiben, und wenn eine Tür zugeht, so geht doch bald eine andere auf.«

      Was er als nächstes sagte, ließ mich mitten im Rudern aufhören, mit den Rudern in der Luft.

      »Am Tag des Unfalls hat die Polizei einen Mann befragt, der kurz hinter der Unfallstelle an der Bundesstraße wartete. Er stellte sich als Hakenkreuzler heraus, als Nazi. Und er war mit einer Bombe bewaffnet. Ohne den Unfall wären wir jetzt vielleicht alle tot.«

      Langsam und schweigend ruderte ich weiter. Für mich waren die Hakenkreuzler aus Deutschland tausendmal schlimmer als die Roten aus Rußland.

      »Aber Vater, warum können wir sie nicht aufhalten?«

      »Wenn das so einfach wäre, würden wir es tun. Aber das ist nicht die Art Schlacht, wie du sie mit deinen Spielzeugsoldaten führst. Es ist mehr ein Versteckspiel. Sie führen ihre Terroraktionen durch und versuchen, das Mißtrauen gegenüber der Regierung in der Bevölkerung zu schüren, vor allem unter den Arbeitern.«

      »Aber warum?«

      »Sie wollen, daß Österreich ein Teil von Deutschland wird, doch die Mehrheit der Österreicher will Österreicher bleiben. Deswegen können wir uns nicht leisten, in unserer Wachsamkeit nachzulassen. Keinen Augenblick lang.«

      Es war das erste Mal, daß Vater mit mir wie mit einem Erwachsenen geredet hatte. Während ich ihm ernst zuhörte, schwor ich mir, mich nie mehr über die Leibwächter zu beschweren, und ich hoffte inständig, daß Papas »Schatten« ihn nie aus den Augen lassen werde. Es gab jetzt nur noch uns beide.

      Im Laufe des Sommers entwickelten Vater und ich einen geregelten Tagesablauf. Obwohl die Wissenschaft behauptet, daß der Körper mit dem Herzen stirbt, ging das Leben für uns weiter. Fräulein Alice wurde für mich alles, was sie sein konnte, mit dem Urteilsvermögen einer Mutter, voller Weisheit und Liebe. Mit ihr ruderte ich zu den vielen kleinen Buchten des Wolfgangsees, sie grub mit mir Würmer zum Angeln aus und zeigte mir, wie man ein Feuer macht, um Forellen und Maiskolben zu braten. Manchmal wanderten wir auch nur zu einem nahen Bach oder saßen am Ende unseres Steges. Und es waren nicht wenige Forellen, die wir gemeinsam aus dem See zogen, so daß Liesl sich über unsere Triumphe immer weniger freute. Als ich eines Nachmittags den Fang des Tages stolz in die Küche brachte – »Liesl, rate was ich habe?« – und ihr meinen Kübel voller Hauptspeisen zeigte, die noch immer mit den Flossen schlugen, da verharrte sie einen Moment zögernd, um dann zu explodieren.

      »Was? Schon wieder Forellen? Ich werde ein paar Kerzen in der Kirche anzünden, damit es regnet. Für

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