Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg
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Читать онлайн книгу Der lange Weg nach Hause - Kurt von Schuschnigg страница 15
»Kurti, was hast du getan, das du nicht hättest tun sollen?«
»Daß ich Fräulein Kiesler auf den Popo geklopft habe?«
»Genau das ist vollkommen unmöglich. Du darfst nie, nie wieder eine Dame so anrühren. Verstanden?«
Nachdem ich versichert hatte, völlig verstanden zu haben, hörte ich zweimal, was für ein Glück ich hatte, daß Vater und Herr Mandl meine grobe Unhöflichkeit nicht bemerkt hätten. Nur deshalb könne ich noch auf meinem Hintern sitzen. Warum aber war Fräulein Kieslers »derrière« so versteinert? Ich wurde aufgeklärt: »Das ist ein Kleidungsstück, das Korsett heißt. Es läßt eine Dame schlanker aussehen, indem es den Körper einschnürt.«
So wurde ich als Zehnjähriger in die bizarre Welt der weiblichen Eitelkeit eingeführt. Neugierig, aber fragen wollte ich auch nicht, ging ich um Fräulein Alices aufrechte Gestalt, um im Lichte dieser neuen Entdeckung festzustellen, ob auch sie dieser strafenden Verbesserung der Weiblichkeit erlegen war. Ihr Gesicht schien sich leicht zu verfärben und sie sagte: »Du brauchst gar nicht weiterzuschauen. Nichts liegt mir ferner, als mich selbst zu foltern. Und damit hat es sich mit diesem Thema!« Ich hätte es wissen müssen. Sie war viel zu vernünftig.
Tatsache blieb, daß Fräulein Kiesler, trotz ihrer Indifferenz der eigenen Bequemlichkeit gegenüber, die bei weitem schönste Besucherin war, die wir je hatten. Ein Jahr später verließ sie Österreich und Herrn Mandl in Richtung Amerika, wo es mit ihrer Filmkarriere steil bergauf ging, nachdem der Filmproduzent Louis B. Mayer sie in Hedy Lamarr umgetauft hatte.
Solche Ausflüge in den Salon erlaubten mir kurze Blicke auf einige der außergewöhnlichen Persönlichkeiten, denen Vater damals begegnete. Bevor sie mich in den Salon führte, drückte mir Fräulein Alice oft mein immer voller werdendes Autogrammbuch in die Hand. Das belebt meine Erinnerungen bis heute, wenn ich darin blättere. Die Bücher von Baron Hans von Hammerstein-Equord, einer der Besucher, ein begnadeter Schriftsteller und Dichter, bevor er 1936 kurzfristig Justizminister wurde, würde ich allerdings erst später lesen. Weder der lockenköpfige Arturo Toscanini noch die hübsche, blonde Lotte Lehmann machten einen anhaltenden Eindruck auf mich. Damals beschäftigte ich mich nicht mit Musik.
Lotte Lehmann und Arturo Toscanini trugen sich in mein Autogrammbuch ein.
Immer mehr hervorragende jüdische und katholische Persönlichkeiten strömten aus Deutschland nach Österreich. Wie Lotte Lehmann flohen auch Bruno Walter, Elisabeth Schumann, Carl Zuckmayer, Dietrich von Hildebrand und viele, viele andere vor Hitler. Später schrieb mein Vater, daß »… Werte der deutschen Kultur, die in ihrer früheren Heimat heimatlos geworden waren, hier ein neues Vaterland fanden … Weimar war vom Dritten Reich praktisch verbannt worden und hatte in Wien eine neue Heimat gefunden.«
Bei diesen Erinnerungen sollte ich nicht den unglücklichen Emil Fey vergessen, den ehemaligen Minister und Vizekanzler, und seine Frau Malvene, die gleich nach dem Anschluß erschossen wurden, ebenso wenig wie Umberto Herzog von Savoyen, den zukünftigen König von Italien. Den bleibendsten Eindruck aber machte der Prinz von Wales, nicht nur auf mich, sondern mehr noch auf meinen Vater und den Wiener Polizeipräsidenten. Am Tag seines Besuches spielte ich gerade mit meinen Truppen von Spielzeugsoldaten, als Fräulein Alice mit jenem, mir längst zur Genüge bekannten Ausdruck von Zielstrebigkeit hereinkam. Nachdem sie mich von oben bis unten inspiziert hatte, erklärte sie ein frisch gebügeltes Matrosenhemd und die neuen Schuhe für angezeigt. Die Schuhe machten mich stutzig. Kein normaler Gast hätte sie geprüft. Auch meine Hände wurden nach energischem Bearbeiten mit der Nagelbürste in Ordnung befunden.
»Fräulein Alice, kann Purzel mich begleiten?«
»Auf gar keinen Fall!«
Obwohl immer freundlich und nie aus der Ruhe zu bringen, klang Fräulein Alice fast barsch, ein Zustand, in dem ich sie bisher nie gesehen hatte. Das und die militärische Präzision, mit der sie mich herrichtete, waren deutliche Zeichen erhöhter Nervosität.
»Sag mir bitte, was so wichtig ist, daß ich meine neuen Schuhe anziehen soll?«
Sie drehte mich so, daß ich ihr gegenübersaß, legte ihre Hände auf meine Schultern und sagte feierlich: »Kurti, der Prinz von Wales ist da. Er wird der nächste König von England.«
»Fräulein Alice, was macht ein König?«
»Wir haben keine Zeit, um über Berufe zu diskutieren. Laß mich deine Verbeugung sehen.«
Es war nicht das erste Mal, daß ich mich verbeugte, aber es war das erste Mal, daß ich es vor Fräulein Alice proben mußte.
»In Ordnung, das geht. Du hast so höflich zu sein, wie du kannst, und du hast nicht über die Pflichten eines Königs zu reden.«
Nicht nur, daß ihr Tonfall auffallend frei von Humor war, sie hatte nie zuvor mit mir wie mit jemandem gesprochen, der nicht gleichzeitig gehen und pfeifen kann. An der Tür zum Biedermeiersalon wurde ich sanft nach vorne geschoben und Fräulein Alice verschwand.
Ich kam näher und grüßte den Prinzen mit meiner höfischsten Verbeugung, woraufhin Seine Königliche Hoheit mich aufhob und auf sein Knie setzte. Es folgten die üblichen Erwachsenenbemerkungen: »Was bist du für ein großer Bub …« und Fragen nach meiner liebsten Sportart. Ich fürchtete, daß meine Angelerfolge mit dem englischen Rugby nicht ganz mithalten konnten. Doch meine Leidenschaft für das Skifahren sprach wieder für mich. Als nächstes sollte ich über die schönsten Sehenswürdigkeiten unseres »beautiful Wien« berichten. Ich antwortete, der Prater, der berühmte Freizeitpark, sei wunderbar, warnte aber vor dem Zirkus, der stinke fürchterlich. Ob das eine befriedigende Antwort war, weiß ich nicht.
Gleich darauf wurde ich von seinem Knie gehoben und wieder auf den Boden gestellt. Ich hörte zu, als Vater und er redeten, und mir fiel ein, daß jemand einmal Vater als »auf ernste Art gutaussehend« beschrieben hatte. Das war er wohl auch. Der künftige König wiederum erschien mir weder königlich noch majestätisch. Er hatte ein nettes Gesicht, doch es war weich. Ich überlegte mir, welche Vorteile ein Hermelinumhang und eine Krone bringen würden. Würde es einen Unterschied machen?
»Kurti«, Vaters Stimme brachte mich in die Wirklichkeit zurück, ich war entlassen. Am Eingang zum Salon erschien die Geisterhand von Fräulein Alice und führte mich weg. Was für eine Aufregung wegen knapp fünf Minuten! Der Abend kam und ich zog meinen Pyjama an. Als Fräulein Alice meine Hose ausbeutelte, fiel zu unser beider Überraschung ein silbernes Mariazeller-Fünfschillingstück heraus.
»Was ist das?«, schrie ich und stürzte mich auf die Münze.
»Genau, was ist das?«, hörte ich Fräulein Alice sagen.
Ich hatte nie mehr Geld besessen als meine fünfzig Groschen Taschengeld, und die blieben mir nie lang. Auch Zugang zu Geld hatte ich nie, außer dem, was in der Küche lag, Liesls Haushaltsgeld wurde auf einem Teller in der Speisekammer aufbewahrt.