Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg
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Читать онлайн книгу Der lange Weg nach Hause - Kurt von Schuschnigg страница 12
»Ja. Richtig. Manchmal. Aber nicht täglich. Und ich auch nicht.« Sie wurde immer lauter, stemmte die Fäuste in ihre fülligen Hüften, die Ellbogen spitz nach außen gekehrt. Ein gefährliches Zeichen der Unnachgiebigkeit. Ich spürte die kommende Niederlage.
»Bitte, Liesl, ich will nur, daß Vater weiß, daß ich die für ihn gefangen habe. Das ist wie ein kleines Geschenk von mir.«
Sie überlegte kurz. Meine Hoffnung stieg. »In Ordnung, Kurti. Ich sag dir etwas. Wir machen ein Abkommen. In Zukunft gibt es Fisch in keiner Form öfter als dreimal pro Woche. Das heißt nicht, daß du nicht angeln darfst. Angle, soviel du willst, aber von jetzt an gibst du allen überschüssigen Fang dem Stephan. (Das war der Fahrer, der Tichy ersetzt hatte.) Und jetzt erzählen wir deinem Vater, daß du die Fische für ihn gefangen hast, nachdem das Menü aber schon geplant war, hast du sie dem Stephan gegeben.«
Das war nicht genau das, was ich wollte. »Na jaa«, fing ich an, nur um gleich unterbrochen zu werden. »Das war keine Einleitung zu einer Diskussion, Kurti, das ist eine Feststellung. Dein Vater braucht seine Kräfte, und das bedeutet, er muß mindestens sooft Fleisch essen wie Fisch. Geh jetzt, such Fräulein Alice und sag ihr, daß ich sie kurz sehen möchte, bitte.« – Das war also geregelt.
An einem klaren, sonnigen Tag verkündete Fräulein Alice, daß wir zum Tee nach Bad Ischl fahren. Eine halbe Stunde Autofahrt, nur um eine Tasse Tee zu trinken, klang ein bißchen viel. Doch wir fuhren in die Konditorei Zauner. 1832 hatte Johann Zauner sein Fachwissen über die Wiener Backkunst in die Pfarrgasse 7 nach Bad Ischl gebracht. Die dankbaren Kurgäste erfreuten sich am schönen Jugendstil-Interieur in hohen Räumen, am Licht unzähliger Milchglasleuchten, an einer Mozartsonate oder einer Fuge von Liszt. »Der Zauner« hatte den wohlverdienten Ruf, die leichtesten Kuchen und Torten und die delikatesten Süßigkeiten zu servieren. Vor allem aber konnte er sich rühmen, daß Kaiser Franz Joseph 1849 hier zu Gast gewesen war. »Der Zauner« war zu einer Institution geworden. Obwohl das nicht so ausgedrückt wurde, sollte unser Ausflug mich empfänglicher für die Zeremonie des »Fünf-Uhr-Tees« machen.
Ich war in einem Dilemma. Tags zuvor hatte ich eine kleine Schlange im Garten gefunden und sie in mein Zimmer mitgenommen. Es war nicht auszuschließen, daß Liesl sie in meiner Abwesenheit dort entdeckte. Ich mußte also die Schlange mitnehmen, wohlweislich ohne Fräulein Alice etwas davon zu sagen. So reiste dieser dritte Teilnehmer unserer Gesellschaft gut zusammengerollt in der Tasche meiner Lederhose mit.
Frau Zauner höchstpersönlich setzte sich zu uns. Ich schaute mich um. »Fräulein Alice, hier ist es aber sehr ruhig.«
»Na ja, Kurti, das ist ein Teesalon und kein Sportstadion. Schauen wir uns einmal die Speisekarte an.«
Ich wählte meinen Lieblingskuchen, Himbeertorte mit viel Schlagobers. Fräulein Alice entschied sich für ein Stück Apfelkuchen. Es war nach vier Uhr Nachmittag, der Raum zwar ganz voll, aber kein Gespräch lauter als die gemurmelten Antworten bei der Messe in der Kirche. Mein Blick fiel auf den Tisch vor uns. Zwei Damen schienen wie gegen ihren Willen dort zu sitzen. Die elegante Ältere schaute voll Desinteresse auf ihre jüngere, nüchtern gekleidete Begleiterin. Sie schenkten einander nicht einmal den Anflug eines Lächelns. Manchmal nickte die Ältere herablassend. Ihre Begleiterin war offensichtlich aufgeregt und sprach mit großer Intensität. Was sie sagte, verstand ich nicht, doch tat sie mir leid. Jedes majestätische Nicken der Älteren schien sie noch mehr aufzuregen. Die Adern an ihrem Hals schwollen an. Sie schienen kurz davor zu sein zu platzen.
Was nun folgte, dafür gibt es keine vernünftige Erklärung. Ich griff in meinen Hosensack und nahm die Schlange heraus. Das Tischtuch verdeckte meine Hand. Ohne an die Konsequenzen zu denken, ließ ich die Schlange fallen, hielt den Atem an und steuerte sie mit meiner Willenskraft zu dem Tisch der beiden Damen. Daneben bereitete gerade ein Kellner eine vollendete Teezeremonie vor. Ich fürchtete, er könnte auf meinen kleinen Freund treten und ihn zerquetschen und beugte mich in seine Richtung, auch um zu sehen, wie weit die Schlange schon gekommen war. Die hatte blitzschnell und ohne entdeckt zu werden, den richtigen Tisch gewählt und war unter der bis zum Boden hängenden Tischdecke verschwunden. Ich wartete in Hochspannung. Dann geschah es.
Die jüngere Dame schaute plötzlich an sich hinunter. Ich hätte vorgezogen, daß die andere die Schlange bemerkte. Statt dessen kletterte diese am Bein ihrer Begleiterin hinauf. Ein markerschütternder Schrei hallte durch den Teesalon, gefolgt von überraschtem Schweigen. Nicht weniger als fünf Kellner und ein Koch samt Haube stürzten von allen Seiten herbei. Die jüngere Dame sprang auf, riß dabei nicht nur das Tischtuch mit, sondern warf auch den Tisch um. Porzellan flog durch die Luft, Besteck verteilte sich in alle Richtungen. Sie kreischte und schlug mit einer Serviette auf ihr Bein, während sie den Rock über dem Knie festhielt. Die anderen Gäste müssen sie für verrückt gehalten haben. Die Ältere hatte jede Menge Schlagobers in ihrem entsetzten Gesicht, und auf ihrem Schoß lag ein zerquetschtes Stück Kuchen. Augenblicke später ein weiterer schriller Aufschrei: »Schlange!!« Die Wirkung war die einer Fanfare auf einen Kavallerietrupp. Blitzartig leerte sich die Konditorei. Alles flüchtete auf die Straße. Ein Großteil meines Kuchens lag noch immer auf meinem Teller. Ich bereute mein Timing, wollte nicht weg, hatte aber keine Wahl. Fräulein Alice hatte meinen Arm ergriffen und so fest gezogen, daß ich praktisch von meinem Sessel flog.
Im Nu waren wir den anderen auf die Straße gefolgt, wo unsere Gruppe sofort Schaulustige anzog. Ein immer größerer Kreis neugieriger Passanten umringte die Konditorei. In den vielleicht etwas langweiligen Ischler Spätnachmittag platzte die Nachricht, im Zauner sei etwas passiert. An die Rettung meiner Schlange war nicht mehr zu denken. Auf Zehenspitzen stehend, sah ich den Küchenchef mit einem Fleischmesser vorbeisegeln, das mir doppelt so scharf wie Vaters Rasiermesser schien und jedenfalls dreimal so lang wie meine arme Schlange. Das war wohl ihr Ende. Die Menge schwieg und ich hoffte auf ein Wunder. Wann immer ein Passant stehenblieb und vorhersehbare Fragen stellte, hörte man das Wort »Schlange«, danach ein kurzes Luftholen und ein unvermeidliches »Mein Gott!«. Keiner der Neugierigen ging weiter. Würde der tapfere Ritter aus den Niederungen der Konditorei siegen oder besiegt werden? Minuten vergingen und die Menge begann unruhig zu werden. Doch dann tauchte der Koch auf und erklärte die Konditorei für »schlangenfrei«. Die kurzfristig auf die Straße geflüchteten Gäste, durchwegs Damen, standen noch unter Schock. Nur zögernd bewegten sie sich zum Ort der Katastrophe. Vordergründig war die Ordnung wieder hergestellt, wenn auch einiges noch immer durcheinander lag. Wer in den Teesalon zurückkam, tat das nur, um liegengelassene Habseligkeiten einzusammeln.
Ich machte einen Schritt in Richtung dieser unruhigen Gruppe, als Fräulein Alices Hand mich fest an der Schulter packte. Das Drama hatte mich so gefesselt, daß ich sie ganz vergessen hatte. »Kurti, du bleibst hier, genau da. Rühr dich nicht weg. Ich hole nur meine Tasche, bin gleich wieder da.« Im Weggehen murmelte sie etwas von Qualität, die heutzutage überall nachlasse. Frau Zauners Stimme verfolgte die flüchtenden Gäste. Lautstark verteidigte sie die Ehre ihres Teesalons. »Eine Schlange kommt nicht einfach so hereinspaziert in mein schönes Café, auf eine Schale Tee. Unmöglich. Das steckt eine Verschwörung dahinter.« Mir tat sie leid. Wer hätte auch eine so extreme Reaktion auf meinen gutmütigen, harmlosen kleinen Freund vorhersehen können. Mir war klar, daß ich das niemals irgendwem erzählen durfte, nicht einmal dem verschwiegenen Peter Mayer. Es war einfach zu gefährlich. Auch hatte mich Fräulein Alices Reaktion geschockt. Die Vorstellung, der Verdacht könnte auf mich fallen, und die Konsequenzen wollte ich mir nicht einmal ausmalen.
Abends wurde ich zu Vater beordert und erschien gewaschen und bereit zum Schlafengehen. Er erkundigte sich nach unserem Ausflug. Ich antwortete ausweichend, daß er mir gefallen hätte. Fräulein Alice stand mit ungewöhnlich sphingischem Gesichtsausdruck daneben. Vater fragte, ob ich gewußt hatte, daß wir an diesem Nachmittag eigentlich zu dritt gewesen waren. Und dann hörte ich Unerwartetes, ein Wort, das mit »S« anfing, aber nicht »Schlange«, sondern »Schatten«. Wie konnte ich den nur übersehen,