Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg

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Der lange Weg nach Hause - Kurt von Schuschnigg

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die Episode mit der blauen Bank – trat endlich in den Hintergrund. Mutter durchkämmte das Reservoir an Soldaten außer Dienst mit schauspielerischem Talent, um den perfekten Nikolo und Krampus zu finden. Wurden die beiden angekündigt, trat Stille im Ballsaal ein und Dutzende Augenpaare richteten sich, manche fiebernd, auf die Tür. Herein kam der heilige Nikolaus, prächtig unter seiner Mitra, im goldenen Ornat, mit langem, rauschendem Bart. Im Rhythmus seines würdigen Ganges klopfte er mit seinem schweren, juwelenbesetzten Stab auf den Boden. In der Mitte des Raumes hielt die majestätische Erscheinung an und schaute jedem von uns nachdenklich ins Gesicht, wie um zu entscheiden, welche der zuckenden, aufgeregten kleinen Seelen aus den Fängen des Teufels gerissen werden könne. Dann drehte er sich wortlos zum Eingang um und hob, ähnlich Moses in der Wüste, beide Arme, senkte sie plötzlich wieder und warf seinen Stab auf den Boden des Saales. Es folgte ein markerschütternder Schrei vom Gang her und Krampus, der Teufel, sprang herein. Jeder im Zimmer zuckte unwillkürlich zusammen. Ein feuerspeiender, kinderfressender Drache hätte uns nicht mehr erschrecken können. In einer Hand hielt der Bösewicht eine Handvoll Ruten, in der anderen die »Ketten der Hölle«. Er drehte sich um sich selbst und sprang herum, seine dunklen Hörner glänzten im Licht des Lusters, sein langer Schweif peitschte den Boden. Von Kopf bis Fuß war er schwarz gekleidet, in einem halblangen Umhang mit hohem, steifem Kragen. Aus dem leichenblassen Antlitz blitzten uns kohlebemalte Augen entgegen. Die einzige Farbe in seinem Gesicht war der breite, rote Mund, aus dem ein fürchterliches Lachen nach dem anderen gellte. Die grauenvolle Erscheinung ließ uns in unseren Sitzen erstarren. Das Gerassel der Ketten begleitete jede seiner Bewegungen. Nur ab und zu hörte er auf, um einem von uns aufs Kinn zu klopfen. Natürlich wußten wir, daß er nicht echt war. Das wußten wir schon, bevor er hereinkam. Doch wenn das Böse ein Gesicht hatte, dann sahen wir es jetzt. Mit verächtlichen und drohenden Bemerkungen stieg er im Saal herum. »Ich hab gehört, daß du in der Schule kein braver Bub warst? – Du gehorchst also deiner Mutter nicht immer, kleines Mädchen?«

      Endlich verbannte ihn der heilige Nikolaus in die Ecke, wo er hockend knurrte und uns anblitzte. Der Nikolo verteilte Obst, Geschenke und Nüsse. Es folgten noch die Torten, das Eis und was immer sonst Liesl zwei Tage lang für uns hergerichtet hatte. Schließlich gab es noch jede Menge Spiele.

      Doch zuerst kam der Abgang des Star-Duos. Der heilige Nikolaus schritt den ganzen Ballsaal majestätisch ab und hielt vor der Tür. Mit würdigen Worten kamen die üblichen Ermahnungen: »Bleibt immer brav und denkt daran, daß ich alles erfahre, was ihr macht.« Währenddessen stampfte der Krampus in seiner Ecke herum. Als er an die Reihe kam, stieß er einen schrillen Schrei aus, sprang in die Luft und ließ noch einmal seine Ketten rasseln. Dann rutschte er hinüber zum Nikolo und zischte mit seinen blutroten Lippen: »Ich weiß auch, was ihr macht, und ich werde euch genau beobachten.« Woraufhin beide unter begeistertem Applaus den Saal verließen.

      In der Hoffnung, sie in die Wolken oder in einem Feuerball verschwinden zu sehen, rannten wir zum Fenster. Nur daß ihr Verkehrsmittel ein Polizeitransporter war, hat unsere Phantasie ein wenig gestört. Trotzdem reckten wir die Hälse, um sie wegfahren zu sehen. Wir schrien: »Nikolo! Krampus! Hier oben sind wir!« Sie schauten herauf. Der heilige Nikolaus hob beide Arme und verschwand im Wagen, der Krampus schüttelte die Fäuste voller Ketten und folgte ihm mit einem letzten Lacher. Sein Schweif war verschwunden und wir hatten uns langsam wieder dem Saal zugewendet, als ein ungewöhnlich bestialisches Geräusch uns an die Fenster zurücktrieb. Unten tauchten zwar weder Nikolo noch Krampus noch einmal auf, dafür aber drehte der Polizeitransporter viel schneller als üblich um und fuhr mit heulender Sirene in rasender Fahrt davon. Es war für uns fast eine Zugabe. Tags darauf, wir fuhren wieder in ein Altersheim, begrüßte uns unser Fahrer Tichy mit der Nachricht, daß es Feldwebel Schmidt viel besser gehe und er Mutter für ihre Anteilnahme danken lasse.

      »Wovon redet Tichy, Mutter?« fragte ich, weniger aus Neugier als wegen des Vergnügens, mit meiner Mutter ein Gespräch zu führen.

      »Er bedankt sich für meine Sorge. Ich hatte mich nach Feldwebel Schmidts Zustand erkundigt, Kurti.«

      »Wieso, gestern ging es ihm doch gut.« Ich wußte, daß Feldwebel Schmidt den Krampus gespielt hatte. Er half auch dem Tichy manchmal.

      »Naja, nach der Vorstellung hatte Feldwebel Schmidt eine Art Unfall. Anscheinend war sein Krampus-Schweif mit einem langen Nagel hinten an seiner Strumpfhose befestigt. Er hätte sich in dem Kostüm nicht hinsetzen dürfen. Leider hat er das vergessen.«

      Ich saß einen Augenblick still da und sah sie an. Dann schüttelte ich mich vor Lachen. »Ich wette, diesen Fehler macht er nie, nie wieder.« Mutter bemühte sich kurz, ernst zu bleiben, doch dann platzte auch sie heraus. Vor Lachen fast am Ersticken, meinte sie, daß Schmidt sich nächstes Jahr kaum noch einmal freiwillig für den Krampus melden werde. Sie trocknete ihre Augen mit einem Taschentuch. »Der arme Mann«, seufzte sie und kämpfte um ihre Fassung. Dann fuhren wir los, um die alten Leute zu unterhalten.

       Katastrophe

      Die Lage in Österreich war das Ergebnis komplexer Zusammenhänge und politischer Ereignisse, die bis in die Zeit vor dem Krieg zurückreichten. Langsam erholte sich Österreich von der katastrophalen finanziellen Lage, in der sich das Land seit dem Jahr 1918 befunden hatte. Die Rückzahlung des Völkerbundkredits und die von Deutschland verhängte Tausend-Mark-Sperre bereiteten große Schwierigkeiten, doch die Inflationsplage war zurückgegangen, und die wirtschaftliche Situation verbesserte sich langsam.

      Das Jahr 1935 fing mit großen Fanfarenklängen an: Der Kanzler gab bekannt, daß der Wiener Opernball vom Staat gefördert werden würde. Dies hob nicht nur den unschätzbaren Beitrag österreichischer Musiker und Komponisten für die Musikwelt hervor, sondern sollte auch dem Tourismus, von dem das Land so abhängig war, zu einem Aufschwung verhelfen. Wenig, was das Regieren des Landes anbelangte, war so unkompliziert wie der Opernball.

      Reifen quietschen. Metall verbiegt sich. Körper fliegen durch die Luft. Rauch. Ein Albtraum.

      »Wach auf, Kurti!«

      Rufe und Weinen. Alles ist durcheinander.

      Mein Gesicht fühlt sich im Wind feucht an. Wahrscheinlich versucht Purzel, mich zu wecken. »Runter mit dir, geh weg!«, höre ich mich sagen. Dann: »Kurti, Kurti!« Fräulein Alices Stimme ruft mich leise. Gott sei Dank! Ich öffne die Augen, schaue in den blitzblauen Himmel, aus dem die Sonne herunterbrennt. Ich blinzle. Mein Kopf liegt auf Fräulein Alices Schoß. Aber wo ist das Auto? Was tun wir da im Gras und was redet sie mit mir? Natürlich geht’s mir gut. Ach, da ist ja auch Vater. Doch er ist sehr blaß, düster. »Papa, was fehlt dir? Bist du krank?« Er wischt mein Gesicht ab. Blöder Purzel. Doch das Taschentuch ist rot. Der Himmel dreht sich. Nein, vielleicht bin ich das. Und da ist Liesl. »Laß ihn sich nicht bewegen, Alice.« Aber genau das will ich. Ich fühle mich nicht wohl. Liesl dreht sich um und stöhnt auf. Auch ich drehe mich um und sehe, daß zwei Männer etwas tragen.

      Nein, nicht etwas, jemanden.

      Zwei Beine unter einem weißen Leinenrock. Ich halte den Atem an, mein Herz setzt kurz aus. Mutter!! Doch ihre Augen sind geschlossen. Sie bewegt sich nicht. Genauso blaß wie Vater. In den Armen der Männer schaut sie wie eine kleine Puppe aus. Er sollte bei ihr sein. Wo ist er? Die Männer legen sie vorsichtig in den Rettungswagen. Ich sehe Fräulein Alice an. Auch sie kann sich nicht von der Szene losreißen. Sie weint. Ich habe Fräulein Alice noch nie weinen sehen. Ich drehe mich zu Liesl. Auch sie weint. Jetzt schauen mich beide an.

      Voll Angst drehe ich mich noch einmal zum Rettungsauto.

      Und dann weiß ich es.

      Ich schließe die Augen und gebe dem Schwindelgefühl nach. Starke Arme heben mich auf. Als ich meine Augen wieder öffne, liege ich

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