Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg
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Anfang Februar 1934 explodierten an nur einem Tag vierzig Bomben. Auf Regierungsmitglieder und andere österreichische Patrioten wurden Anschläge auch mittels Briefbomben verübt.
Der 12. Februar 1934 begann für uns mit der Meldung einer Explosion in unserer Innsbrucker Wohnung. Durch den Briefschlitz war eine Bombe hineingeworfen worden. Aber das war die weitaus unwichtigste aller schlechten Nachrichten an diesem Schicksalstag. Als hätte das Land mit dem Naziterror nicht genug zu tun gehabt, begann der ebenso kurze wie überaus blutige Bürgerkrieg zwischen militanten Sozialdemokraten und den von der Heimwehr unterstützten Ordnungskräften der Regierung.
Emil Fey, der Vizekanzler und Sicherheitsminister, hatte eine Durchsuchung des Hauptquartiers der Sozialdemokratischen Partei in Linz nach Waffen angeordnet. Während der Durchsuchung kam es zu einer Schießerei. Später wurden in Wien Kraftwerke beschädigt und Telefonleitungen gekappt. Der verbotene Schutzbund erhob sich. In Wien wurden mehrere Polizisten durch Heckenschützen umgebracht, was das Pulverfaß zur Explosion brachte, und so eskalierten die Kämpfe. Bundeskanzler Dollfuß beorderte Truppen in den Karl-Marx-Hof in Wien. Als militärisches Hauptquartier des Aufstands war der Gemeindebau schon lange vorher von allen verlassen worden, die nicht zum Schutzbund gehörten. Die Schlacht wütete. Endlich, nach drei Tagen, beruhigte sich die Situation.
Im Mai 1934, als Optimisten meinten, eine zaghafte Beruhigung der Lage zu erkennen, trat George Messersmith seinen Posten als neuer US-Gesandter in Wien an, einen Dienst, der äußerst kurz geworden wäre, hätte man im Hotel Bristol, wo er vorerst Quartier nahm, nicht rechtzeitig einen Sprengsatz entdeckt, mächtig genug, um das ganze Haus in die Luft zu jagen.
Dieser Sommer 1934 war besonders heiß. Wer immer konnte, entfloh der brütenden Hitze in der Stadt. Am 25. Juli fuhr Mutter mit ein paar Freunden ins Strombad bei Klosterneuburg, für uns Buben ein ganz besonderes Ereignis. Nach dem Mittagessen wurde sie zum Telefon gerufen. In der Annahme, daß es Vater sei, folgte ich ihr hinaus. Während sie zuhörte, verfinsterte sich ihre Miene zusehends, und nach ein paar kaum hörbaren Worten legte sie blaß und still den Hörer auf, nahm wortlos meine Hand und führte mich zurück zu unserer Gesellschaft. Dort erklärte sie, in Wien dringend gebraucht zu werden. Daß sie soeben vom Mord an Bundeskanzler Dollfuß erfahren hatte, verschwieg sie uns. Wir sollten bleiben und uns gut unterhalten. Der Chauffeur werde später zurückkommen und uns abholen. Sie umarmte mich und ermahnte mich, brav zu sein, als hätte ich nicht gewußt, daß ich mich vor Gästen niemals schlecht benehmen durfte. Mit einem sehr unguten Gefühl sah ich sie wegfahren.
Gegen Abend brachte uns das Auto zurück in die Stadt, wo ich als letzter zuhause abgesetzt wurde. Schon in der Nähe des Augartens standen auffällig viele Polizisten am Straßenrand, im Park selbst und in der Auffahrt zum Palais dann auch Soldaten. Irgend etwas war los. Da standen bewaffnete Männer in Bereitschaft, die ungeschickt versuchten, ihre Waffen vor mir zu verbergen. Der Chauffeur fuhr an unserem Eingang vorbei an ein anderes Ende des Gebäudes. Ich erfuhr, daß ich für diese Nacht bei den Davids, unseren Nachbarn, bleiben sollte. So etwas war noch nie passiert. Und von meinen besonders netten Gastgebern erfuhr ich auch keinen Grund. Ich bekam mein Abendessen und wurde ins Bett gesteckt. Trotz meiner Empörung, wie ein Kleinkind behandelt zu werden, schlief ich wie ein solches, kein Wunder nach dem langen Tag am Wasser und der Aufregung über was auch immer geschehen war.
Später in der Nacht wachte ich durch laute, ungewohnte Geräusche auf. In einiger Entfernung sah ich Lichtpunkte, die sich eigenartig durch die Dunkelheit bewegten, und hörte kleine Explosionen. Außerdem waren Schreie zu hören. Vor dem Fensterbrett kniend erkannte ich, daß hinter den Lichtkegeln Männer mit Taschenlampen standen und daß die Knallerei Schüsse waren. Das schnell Spuckende mußte ein Maschinengewehr sein, die anderen wahrscheinlich Pistolen und Gewehre. Außerdem hörte ich splitterndes Glas und das Zwitschern von Kugeln, die an festen Oberflächen abprallten. Mit dem Gewehrfeuer vermischten sich gebrüllte Befehle. Aus aufgeschnappten Gesprächsfetzen folgerte ich, daß entweder die »Hakenkreuzler« oder die »Roten« für den Lärm da draußen verantwortlich waren. Wer auch immer, in einer ernsteren Situation war ich noch nie gewesen. Der Pulverrauch drang bis in mein Schlafzimmer. Das hier war etwas ganz anderes als die Schlachten, in die ich meine Zinnsoldaten geschickt hatte. Plötzlich merkte ich, daß sich unter meinem Fenster etwas bewegte. Ich blinzelte ins Dunkle und hielt den Atem an. Sollte ich schnell jemanden holen? Es wäre leicht für einen von »denen«, über eine Leiter in mein Zimmer zu steigen und uns alle umzubringen. Als es für kurze Zeit still wurde, hörte ich ganz in der Nähe ein unterdrücktes Stöhnen, gefolgt von einer ohrenbetäubenden Explosion. Der Kampf hatte wieder begonnen.
Die Zeit meiner Wache am Fenster schien mir wie eine Ewigkeit. Irgendwann wurde ich so müde, daß ich mich auf mein Bett setzte. Die Kämpfe schienen sich auf das entgegengesetzte Ende des Gebäudes zu konzentrieren, dort, wo unsere Wohnung lag. Bis jetzt war niemand in mein Zimmer gekommen. Ich war sehr versucht, nachzuschauen, ob es den Davids gut ging, erinnerte mich aber, daß meine Mutter mich nachmittags ermahnt hatte, ein »braver Bub« zu sein. Also blieb ich, wo ich war, und schlief schließlich doch ein.
Bei Tagesanbruch holte mich einer der Diener und brachte mich zu meinen Eltern, die in einer anderen Wohnung im Augarten die Nacht durchwacht hatten. Von ihnen erst erfuhr ich, daß Bundeskanzler Dollfuß von den Hakenkreuzlern umgebracht worden war. Ein erstes Attentat hatten sie schon im vergangenen Oktober versucht, jetzt war es ihnen gelungen.
Im Augarten-Palais herrschte Hochbetrieb. Jedermann war mit irgend etwas beschäftigt. Mein Fräulein Alice, der es endlich gelungen war, quer durch Wien bis zu uns durchzudringen, half bei der Einrichtung eines Übergangsquartiers. Ich nutzte die Gelegenheit und stahl mich aus der Wohnung der Davids. Eine Armee von Wachposten mit der Waffe im Anschlag umringte das Areal. Aber die Pockennarben der Einschüsse an der Fassade und der herumliegende Schutt waren unübersehbare Spuren der Kämpfe. Etliche Arbeiter waren mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt. Aus ihren Gesprächen entnahm ich, daß Polizei und Militär bis zum Morgengrauen mit den Hakenkreuzlern gekämpft hatten. Als einer der Arbeiter mir zu Vorsicht riet, kehrte ich zu unserer Wohnung zurück, auch um Fräulein Alice nicht zu beunruhigen. Für mich waren Hakenkreuzler, Braunhemden und Nazis für alles Böse verantwortlich. Zudem warfen die Ereignisse des vorigen Tages eine ganz neue Frage auf: Wenn sie Dollfuß, den die Polizei und das Heer beschützt hatten, ermorden konnten, wer war dann noch sicher? Für einen Achtjährigen ein bißchen viel auf einmal, und das war erst der Anfang.
Die Arbeiter schufteten rund um die Uhr. Binnen kurzem war von dem Werk der Terroristen keine Spur mehr zu sehen, die Einschußlöcher aufgefüllt, die Räume frisch ausgemalt, die Fensterscheiben ersetzt, Porzellanscherben und zerbrochenes Kristall aufgekehrt, die zersplitterten Möbel weggebracht. Auf das kleinste Detail war geachtet worden. Riesige Sträuße weißer Lilien säumten das Foyer, und Rosen quollen aus den schweren Bleikristallvasen im großen Salon. Vaters Bibliothek ging im Blumenschmuck unter. Diese Pracht hatte einen prosaischen Grund, man hoffte, durch den Blumenduft den Pulvergestank zu überdecken, der noch überall in der Luft hing. Von einer Schale voll Trauben und Feigen auf dem Eßtisch bis zu den frisch gestrichenen zitronengelben Wänden, alles sollte Normalität bezeugen. Genau genommen sah die Wohnung besser aus als zuvor.
Trotzdem wußte ich, als ich mit meinen Eltern von Zimmer zu Zimmer ging, daß nichts »normal« war und es auch nie wieder sein würde. Die materiellen Schäden waren zu ersetzen, nicht aber die mit den jetzt verschwundenen Sachen verbundenen Erinnerungen, der bemalte Kleiderkasten, die Nachttische und Lampen, all das flüsterte mir zu und machte mich taub. Aber ich behielt diese Gedanken für mich. Obwohl es Vater äußerlich gut ging, spürte ich Mutters Unbehagen. Sicher ging es ihr nicht um die vielen zerstörten Sachen. An materiellem Besitz hing sie nie besonders, trauerte ihm nicht nach. Ihre Unruhe zeigte sich auf andere