Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg

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Der lange Weg nach Hause - Kurt von Schuschnigg

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auf mein inständiges Flehen und Betteln gab sie schließlich nach. Pinpin bekam, wenn auch widerwillig, Asyl in der Küche. Leider war das Arrangement aber nicht der erwartete Erfolg, denn jedesmal, wenn Liesl die Tür öffnete, rannte das Kätzchen hinaus. Waren wir in Hörweite, dann hatten einer von Papas Ordonnanzen und ich Einfangdienst. Außerdem hatte Pinpin eine Leidenschaft für Mutters blaßgelbe Seidenvorhänge, an denen sich in Höchstgeschwindigkeit hinaufklettern ließ. Mein Glück war, daß die ganz neuen Muster, die Pinpins Krallen in dem weichen Stoff hinterließen, meiner Mutter nicht gleich auffielen.

      Nachdem Gsaller und Defregger mein Kätzchen eher tolerierten als Liesl, wurde Pinpin in ihr »stofffreies« Dienstzimmer übersiedelt. Aber auch das hielt nicht lang. Am nächsten Tag, als ich gerade mit Pinpins Milch hereinkam, ließ Defregger unabsichtlich das Dienstbuch auf den Boden fallen. Der laute Knall erschreckte das Kätzchen, das durch die angelehnte Tür entwich. »Pfui! Komm zurück!«, schrie ich, bei einer Katze ein denkbar nutzloser Befehl. Schnell stellte ich die Milch ab, die dabei überschwappte und über meine Kleidung und den Schreibtisch zu Boden rann. Dann hörte ich: »Fangt diese Katze ein!« Es war Mutter. Ihren Tonfall mit »ungehalten« zu beschreiben, wäre eine Untertreibung gewesen. Wäre sie dafür schnell genug gewesen, sie hätte wohl selbst das Kätzchen aus dem Fenster geworfen. Zurück im Salon, hörte ich das bekannte Geräusch: sis-sis-sis. Über die Vorhänge hinauf, hatte sich Pinpin auf der gelbseidenen Karniese in Sicherheit gebracht. Jetzt sah auch Mama die Bescherung. Ich erhielt eine förmliche Verwarnung. Also mußte doch der Hund delogiert werden. Etwas entmutigt und mit nur wenig Vertrauen in diese Lösung nahm ich das Kätzchen in mein Zimmer. Aber Küche hin oder her, Purzel hielt weiter vor meiner Tür Wache, was mich diese immer nur einen Spaltbreit zu öffnen und mich seitlich hindurchzuquetschen zwang. Von meinem Zimmer der Fassade entlang über das Fenstersims in den angrenzenden Salon zu gelangen, auch das überlegte ich, wäre mit Sicherheit der sprichwörtliche Tropfen gewesen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Im übrigen war Purzels Verhalten komisch, fast schon bizarr: Er bellte nicht und kratzte nicht an der Tür. Er lag nur davor.

      Zwei Tage später war die Hölle los. Mutter war auf dem Weg in ein Altersheim, und ich sollte sie begleiten. Als sie »Kurti, wir gehen in fünf Minuten« rief, lag mein Anzug, von Fräulein Alice vorbereitet, auf meinem Bett, und ich spielte gerade die Schlacht von Aspern und Eßling auf dem Boden meines Zimmers nach. Ich sprang auf und griff nach meinen Sachen, hüpfte herum und war in kürzester Zeit angezogen. Mutter würde mich im Auto kämmen müssen. Im vagen Bewußtsein, etwas vergessen zu haben, riß ich die Tür auf. Davor lag Purzel, der geduldig auf diese Gelegenheit gewartet hatte. Bevor ich »raus« schreien konnte, war er schon auf halbem Weg zu seinem Ziel, der dösenden Pinpin. Unmittelbare Gefahr spürend, sprang diese vom Bett zur Kommode, zielte auf die Tür und schoß kometenhaft hinaus, Purzel hinterher. Die wilde Jagd ging durch das Vorzimmer, vorbei an beiden Salons und durch die offenstehende Eingangstür hinaus auf den Gang, wo dann der stämmige Gsaller dem lauten und bald um eine Ecke verschwindenden Duo nachrannte. Im Geiste sah ich schon einen triumphierenden Purzel mit der kleinen, leblosen Pinpin im Maul.

      In einer Ecke des Ganges fand ich die Tiere wieder. Pinpin setzte gerade zum Sprung ihres Lebens an. Von dem wild knurrenden Purzel bedroht, der zwanzigmal so groß war, mag sie gefürchtet haben, gleich zu einer Hundevorspeise zu werden. Ein offenes Fenster schien die Rettung. Im Bruchteil einer Sekunde sprang sie hinaus und landete auf dem Glasdach der darunterliegenden Einfahrt. Gsaller, inzwischen nachgekommen, kam zu einem schnellen, aber verhängnisvollen Entschluß. »Sie sitzt nur so da«, rief er mir über die Schulter zu und sprang der Katze auf das Glasdach nach. Dieses hatte zwar Pinpin getragen, unter dem Gewicht des schweren Mannes brach es natürlich durch und beide, Gsaller und die Katze, landeten im Splitterregen auf dem Asphalt. Zum Glück im Unglück standen dort weder Autos noch Fahrer noch irgend jemand sonst herum. Das vollkommen unverletzte Kätzchen schoß in Panik auf die Straße hinaus und sprang an einer Dame hinauf, deren Seidenkleid dabei nicht ganz heil blieb, während die Trägerin einen Schock erlitt. Ein Wachebeamter, der zu Hilfe geeilt war, übernahm Pinpin, ein anderer machte sich auf die Suche nach Riechsalz für die Passantin und nach einem Rettungswagen für Gsaller, der in ein Krankenhaus gebracht werden mußte. Viel später als geplant und sehr kleinlaut begleitete ich Mutter in ihr Altersheim.

      Mama hatte die bemerkenswerte Eigenschaft, in schwierigsten Situationen Ruhe zu bewahren. Wie eben jetzt. Sehr wohl beschäftigte mich für den Rest des Tages der Gedanke an Vaters Reaktion. Seine Lippen schienen geradezu zu verschwinden, erzählte mir Liesl beim Frühstück am nächsten Morgen, als er die Zeitungsüberschrift las: »Schuschnigg-Wildkatze greift Dame vor dem Kriegsministerium an.« Was konnte das Schlimmste sein, das mir jetzt bevorstand? Oder was das Beste? Es kam ziemlich auf dasselbe heraus. Mein Taschengeld war wohl dahin, bis folgendes bezahlt war: das Kleid der Dame, Gsallers Krankenhauskosten und das Glasdach über der Einfahrt. Dafür würde ich den Rest meines Lebens brauchen. Ein düsterer Gedanke folgte dem anderen. Schließlich kam die Vorladung, kurz vor meiner Schlafenszeit. Ich ging in den Salon. Papa saß. Ich stand, auf wackeligen Beinen.

      »Kurti, ist dir klar, daß du deine Pflichten vernachlässigt hast?«

      »Jawohl, Papa.«

      »Ist dir klar, welche ernsten Konsequenzen das gehabt hat?«

      »Ja, Papa. Es tut mir sehr leid. Es tut mir so leid, daß sich Gsaller weh getan hat, und es tut mir so leid, daß das Kleid der Dame beschädigt ist, und es tut mir leid, daß das Glasdach kaputt ist. Es tut mir sehr, sehr leid, daß das in die Zeitung gekommen ist.«

      Papa runzelte die Stirn, als ich die Zeitung erwähnte. Er schien weich zu werden.

      »Komm her, mein Sohn.«

      Er streckte die Arme aus und hob mich auf den Schoß. Eine willkommene Wendung. Er erklärte mir, daß es nicht fair gewesen sei, Pinpin im selben Haushalt mit einem Hund zu halten, besonders mit einem so großen und starken wie Purzel einer geworden sei, und daß Klettern für ein Kätzchen ganz natürlich sei. Wir müßten nun das tun, was für Pinpin das Beste sei. Sie komme in den Zoo, um mit all den anderen wilden Katzen zu leben, und dort könne ich sie, sooft ich wolle, besuchen. Meine Erleichterung war groß. Pinpin würde also glücklich und in Sicherheit sein. Ganz egal, was Mutter dachte, Minister Stockinger hätte Pinpin ja doch aus dem Fenster geworfen.

      Purzel war wieder in meinem Zimmer. Gsaller hatte sich nichts gebrochen, nur das Handgelenk verstaucht, und er mußte ein bißchen genäht werden. Alles in allem hätte es viel schlimmer ausgehen können.

      Einer der spektakuläreren Räume des Kriegsministeriums war der große Neo-Rokoko-Ballsaal. Marmorwände, ein schöner, hoher Plafond mit schweren Lustern, vergoldete, mit rotem Samt tapezierte Möbel, dazwischen dekorative Spiegel. In der Mitte stand ein immer perfekt gestimmter Konzertflügel. Mutter sorgte dafür, daß dieser Saal nicht ungenützt blieb. Jeder Maestro und jede Diva der Zeit wurde eingeladen, dort aufzutreten. Es waren die schönsten Abende für meine Eltern. Meine Erfahrungen mit dem Ballsaal waren vergleichsweise banal. Die Kinderfeste, die für mich und meine Freunde ausgerichtet wurden, fanden ebendort statt. Wenn Mutter ihre nie nachlassende Energie und ihren Erfindungsreichtum für diese Arrangements verwendete, blieben die Ergebnisse immer im Gedächtnis haften. Die Feste zu Nikolo, im Fasching oder zu Geburtstagen waren voll klug ausgedachter und phantasievoller Spiele. Es gab so viel »Kracherl«, Zitronen- oder Orangenlimonade, und Torten, daß uns manchmal davon übel wurde.

      Am liebsten aber waren meinen Freunden und mir die Nachmittage mit den Märchentanten. Das waren Schauspielerinnen, die ihre beste Zeit bereits hinter sich hatten. Stundenlang hingen wir an ihren Lippen. Ihre Stoffe schienen unerschöpflich zu sein: Die Schandtaten von Max und Moritz mit der Witwe Bolte von Wilhelm Busch, die phantastischen Märchen der Gebrüder Grimm und vieles mehr. Diese Darbietungen waren so lebendig und fesselnd, daß wir den vergifteten Apfel förmlich zu riechen meinten, in den Schneewittchen biß, und vor Kälte zitterten, wenn Hänsel und Gretel durch den Wald schlichen. Wir lebten

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