Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg

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Der lange Weg nach Hause - Kurt von Schuschnigg

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dachte ich an einen Witz, einen von Fräulein Alices unerwarteten Tricks. Vielleicht konnte sie Münzen herbeizaubern. Daß die Hypothese falsch war, sah ich sofort an ihrem Gesichtsausdruck. Ich sagte: »Fräulein Alice, das gehört mir nicht.« Die Wortwahl war unglücklich.

      »Sicher gehört dir das nicht. Versuchen wir es noch einmal. Woher hast du das Geld?«

      Ich war sprachlos und schaute von der Münze auf Fräulein Alice. Jetzt kam, was in unlösbaren Situationen immer passierte: Vater. Wir marschierten zu ihm. In der Bibliothek beschrieb Fräulein Alice die Umstände. Meiner Antwort, der einzigen, die ich auf die unvermeidliche Frage geben konnte, folgte eine schallende Ohrfeige. Ich war nie zuvor ins Gesicht geschlagen worden. Die Krampusrute, das schon, manchmal auch so auf den Hintern, aber noch nie ins Gesicht. Mehr als der Schmerz und die Erniedrigung schockierte mich allerdings, daß mein Vater mich für einen Dieb hielt, für einen Dieb und Lügner. Selten genug sah ich ihn, und um so weniger hielt ich es aus, der Grund für sein Mißfallen zu sein. Schweigend verfluchte ich die Münze und das Schicksal der ungerecht Beschuldigten. Erst viele Jahre später löste sich das Rätsel: Es war wirklich ein Zaubertrick gewesen, aber Fräulein Alice war nicht dafür verantwortlich gewesen. Der Herzog von Windsor, zuvor Prinz von Wales und kurz König Edward VIII., gab zu, mir die Münze in die Tasche gesteckt zu haben, als ich an jenem Nachmittag auf seinem Schoß saß. Was als wunderbare Überraschung gedacht war, ging völlig daneben bei einem Empfänger, der nie mehr Geld als fünfzig Groschen besessen hatte.

      Wäre es nur um diese für mich zwar schmerzhaft endende, sonst aber unbedeutende Episode gegangen, der »Besuch« hätte gewiß keine Wellen geschlagen. Es kam aber anders.

      Auf seinem königlichen Jagdausflug in den Süden Österreichs war Wien nur Zwischenstation. Hier aber verhielten sich Königliche Hoheit jedoch – Sicherheitsrisiken hin oder her – vollkommen zwanglos und bewegten sich frei in der Stadt, immer nur momentanen Eingebungen folgend. Der arme Polizeipräsident sah alle minutiösen Vorkehrungen über den Haufen geworfen, konnte nur beten, daß nichts passierte, raufte sich seine letzten Haare aus und alterte in den paar Tagen sichtlich.

      Der Höhepunkt aller Selbständigkeit des königlichen Gastes wurde jeweils gegen Abend erreicht. Betrat der Prinz von Wales das Abendlokal seiner spontanen Wahl, so traf er unweigerlich auf gut gekleidetes Publikum, das sich in festlicher Atmosphäre und bei angeregter Konversation am Angebot aus Küche und Keller delektierte. Und immer, wundersamerweise, war der beste Tisch noch frei. Dem »Wunder« wurde freilich sozusagen regierungsamtlich nachgeholfen. Vorsorglich setzte man die besten Restaurants der Stadt allabendlich in Alarmbereitschaft, eines davon würde der hohe Gast wohl mit seiner Anwesenheit auszeichnen. Hatte man »seine« Wahl in Erfahrung gebracht, mühsam genug und meist sehr kurzfristig, setzte hektische Betriebsamkeit ein. Da Königliche Hoheit unter Wienern zu speisen wünschten, wurde eine Anzahl verläßlicher, gesellschaftlich gewandter höherer Beamter samt ihren Damen dem Anlaß entsprechend ausstaffiert und zu bewußtem Restaurant in Bewegung gesetzt, um dort unverdächtig gutbürgerliches Publikum zu markieren. Die Kosten dieses »gesellschaftlichen Potemkin« müssen gigantisch gewesen sein: Ausstaffierung, vor allem der Damen, Überstunden, Restaurantrechnungen, Stornierung der Reservierungen in anderen Lokalen, die der Prinz hätte wählen können … Da fielen ein paar Straßenlaternen kaum mehr ins Gewicht, auf die der hohe Gast nach einem der abendlichen Gelage und ausgiebigem Konsum besten Cognacs Schießübungen veranstaltete. Er war selbst zu vorgerückter Stunde ein ganz hervorragender Schütze!

      Als feststand, was das alles zusammen unter dem Strich gekostet hatte, raufte sich Vater die Haare. Böses Blut machte die Sache ohnehin. Aber schließlich lag Sarajewo kaum mehr als zwanzig Jahre zurück, und nur die Möglichkeit eines Attentats auf den Prinz von Wales erschien allen Verantwortlichen als wahrer Albtraum. So gesehen, und in der ohnehin angespannten Lage Österreichs, hielt die Regierung Mühen und Aufwand für ebenso notwendig wie vertretbar.

      Am 11. Juli 1936 unterzeichneten Österreich und das Deutsche Reich ein Abkommen, das die Normalisierung der bilateralen Beziehungen einleiten sollte. Österreich erreichte eine Anerkennung seiner staatlichen Souveränität, das Abflauen des Nazi-Terrors und, vor allem, die Aufhebung der Tausend-Mark-Sperre und anderer wirtschaftlicher Diskriminierungen. Im Gegenzug mußte unter anderem eine politische Amnestie für inhaftierte Nationalsozialisten zugestanden werden und die Vertreter des sogenannten nationalen Lagers zu politischer Verantwortung herangezogen werden.

      Nur eine Woche später brach am 18. Juli 1936 der Spanische Bürgerkrieg aus. Die Unterstützung Francos durch Italien und in der Folge das Deutsche Reich schweißte diese beiden Staaten noch enger zusammen und schwächte damit neuerlich die heikle Stellung Österreichs.

      Unser Sommer 1936 in St. Gilgen konnte nur besser als der vorangegangene werden. Fräulein Alice hatte ihrem ehemaligen belgischen Arbeitgeber, Monsieur Vincent Cols, das Salzkammergut so bildhaft als ideale Ferienregion beschrieben, daß er tatsächlich mit seinen Kindern im Schlepptau anreiste. Michel war in meinem Alter, die ausnehmend hübsche Suzy drei Jahre älter. Sie schlugen ihre Zelte in St. Gilgen auf. Wir angelten gemeinsam, schwammen und grillten unsere Abendessen unter freiem Himmel, stets unter den wachsamen Augen von Fräulein Alice. Diese Wochen wurden zum Höhepunkt meines Sommers. Als die Belgier abreisten, riß das ein klaffendes Loch in meinen Tag.

      Doch Zehnjährige erholen sich schnell. Ich konnte wandern, schwimmen, Pilze suchen oder nur auf dem Steg liegen, Angelrute und Köder vergessen und einfach den Vögeln nachschauen. Aber auch herannahende Sommergewitter hatten ihren Reiz, wenn ich von meinem überdachten Balkon zuschaute, wie sich zunächst in der Ferne dramatische, rabenschwarze Wolkengebirge zusammenzogen, aus denen zunächst nur tiefes Grollen kam, bis die Blitze auch in unserer Nähe über den Himmel fuhren. Meistens dauerte das aber nur kurz. Die dazu gehörenden Regengüsse ließen Blüten und Laub in der wiederkehrenden Sonne um so heller leuchten. Wenn die Nacht hereinbrach und die vollkommene Dunkelheit nur vom Mondschein und den Sternen durchbrochen wurde, lag ich mit Purzel gerne auf der oberen Veranda und lauschte auf die nächtlichen Geräusche des Sommers und den sanft flüsternden Wind. Da war das Leben für einen Augenblick vollkommen.

      Mit solchen Erinnerungen trat ich nach dem Sommer im Kollegium Kalksburg ein.

       Kalksburg

      »Was hast du für ein Glück, Kurti, mit dieser schönen Umgebung und der großartigen neuen Schule, die dich erwartet!«

      Fräulein Alices Stimme riß mich aus meinen Gedanken, während wir durch die südlichen Vororte Wiens fuhren.

      »Das stimmt«, fügte Großvater hinzu, »aber wir werden auch einsam sein ohne ihn, nicht wahr, Purzel?«

      In Kalksburg gab es so viele Buben, daß ich Einsamkeit nicht zu fürchten brauchte. Ich würde ganz einfach einer mehr sein, wie alle anderen auch. Peter Mayer und Rudi Fugger, meine engsten Freunde, gingen zwar nicht hier in die Schule, dafür aber traf ich ein paar andere Klassenkollegen wieder. Fräulein Alice hatte recht. Ich hatte Glück. Vor mir lag ein neuer Lebensabschnitt, zum erstenmal außerhalb der vertrauten häuslichen Regeln. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, was Fräulein Alice ohne mich tun sollte. Ihr und natürlich Purzel galt meine natürliche Zuneigung, sie waren bisher meine Stützen gewesen.

      Das Auto war kaum zum Stillstand gekommen, als ich hinaussprang und auf den Eingang der Schule zurannte. Kurz nur drehte ich mich nach Großvater um – und prallte voll in einen schwarzen Talar.

      »Nicht so schnell, mein Sohn! In dem Tempo kann deine Familie nie mit dir mithalten.«

      Ich stand vor dem Generalpräfekten der Schule, Pater Hugo Montjoye. Man tauschte Höflichkeiten aus und Fahrer Stephan brachte meinen Koffer in einen der Schlafsäle. Dort trennten hohe Holzwände die Schlafabteile

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