Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg

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Der lange Weg nach Hause - Kurt von Schuschnigg

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erbarmungslos kaltem Licht trug nicht wirklich zu einer freundlichen Atmosphäre bei. Fräulein Alices Fröhlichkeit verriet, daß sie über eine derartige Nüchternheit überrascht war. Vater hatte mir das Jesuitenkolleg seiner Kindheit, die »Stella Matutina« in Feldkirch, wiederholt beschrieben und mich gefragt, ob ich einmal in einem solchen Rahmen auf mich allein gestellt sein möchte. Ich hielt das für ein Abenteuer und stimmte zu.

      Aber gleich die erste Mahlzeit in Kalksburg wurde zu einem ernüchternden Schock. Ich nahm den mir zugewiesenen Platz auf einer hölzernen Bank ein. Wir dankten Gott für die Mahlzeit. Mein Nachbar hielt mir eine Schüssel hin. Ich betrachtete den Inhalt. Grießbrei! Ich stöhnte innerlich, diesen mit Brocken durchsetzten Papp haßte ich noch mehr als Schokolade. Das fing ja gut an! Automatisch drehte ich mich um, wollte die Schüssel weitergeben. Doch ehe ich sie noch loslassen konnte, kam eine laute Stimme vom Kopf des Tisches.

      »Halt!«

      Alle Buben hielten den Atem an, Gabeln und Gläser hingen in der Luft. Unser Präfekt, Pater Zerlauth – von ihm kam die Stimme – sagte eindringlich: »Du wirst den Grießbrei essen, Kurt.«

      Noch ein schlechtes Zeichen. Er kannte bereits meinen Namen. Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Mir gelang es, ruhig herauszubringen: »Aber Pater, davon wird mir schlecht.«

      »Es gibt hungernde Kinder in China, die sich nach einem Grießbrei sehnen.«

      Diesen Gewissensappell kannte ich. Aber den Mut zu erwidern, »sie können meinen haben«, hatte ich doch nicht. Ich aß, wie alle anderen, den Grießbrei und was uns sonst noch als »eßbar« vorgesetzt wurde.

      Das war Lektion Nummer eins …

      Bald darauf wurde mir noch einmal die zweifelhafte Ehre zuteil, während des Essens angesprochen zu werden. Pater Montjoye stand unerwartet auf, klopfte an sein Glas und bat um Ruhe. Hunderte Köpfe drehten sich zu ihm.

      »Heute ist eine große Kiste Orangen aus Bozen angekommen.« Während die Kiste von zwei stämmigen Arbeitern auf seinen Tisch gestellt wurde, fuhr er fort: »Ich lese jetzt die Karte vor, die dabei liegt: ›Für meinen Enkel Kurt von Großvater.‹ Also danken wir alle Kurt von Schuschnigg, daß er diese köstlichen Orangen mit uns teilt.« – »Danke, Kurt«, hallte es im Chor durch den Speisesaal. Ich war glücklich, daß mein Großvater (mütterlicherseits) an mich gedacht hatte, und wartete auf die Verteilung des Obstes. Als die Kiste aber unseren Tisch erreichte, war sie schon leer.

      Das war Lektion Nummer zwei …

      Die Messe um sechs Uhr morgens war ein weiterer Bestandteil des Lebens in Kalksburg. Ich war überzeugt, daß der liebe Gott nicht darauf bestand, uns so früh zu sehen. Nur die wenigen Nichtkatholiken waren von der Messe und den Pflichten des Ministrierens befreit. Nach dem Frühstück – Brot, Butter, Tee – richtete sich alle Aktivität des Tages, vom Lernen bis zu körperlicher Ertüchtigung, auf ein Ziel aus, die Stärkung oder Abhärtung auch der verweichlichsten Schüler. Die Jesuiten wußten wohl, daß manche Söhne mehr verwöhnt wurden als andere. Verwandtenbesuch wurde nur einmal im Monat genehmigt. Man sah solche Strenge als unabdingbar, um eine gesunde Unabhängigkeit der Zöglinge zu entwickeln. In meinem Fall teilten sich Großvater und Fräulein Alice diese Besuchstermine. Früher oder später haben wir uns alle angepaßt. Mir gelang das sogar recht bald. Noch ehe ich an Weihnachten gedacht hatte, war es soweit. Aus dem von Fräulein Alice schon im November angekündigten Skifahren mit Vater in Obladis, einem ruhigen Skigebiet in der Nähe von Landeck, wurde aber leider nichts. Wieder einmal war die politische Lage nicht danach. Die Enttäuschung war um so größer, als ich Vater seit September nicht mehr gesehen hatte. In Wien waren wir zwar auch zusammen, aber Zeit würde Vater da nicht für mich haben, wie überhaupt Freizeit für ihn längst zum Fremdwort geworden war. Alles hing irgendwie mit seiner Arbeit zusammen. Und saß er einmal, selten genug, ohne Minister- oder Beamtenanhang zuhause, so redigierte er seine Reden oder pflegte seine ausgedehnte Korrespondenz.

      Im Oktober 1936 hatten Deutschland und Italien die »Achse« Rom-Berlin in einem Abkommen formalisiert, und einen Monat später kam der »Anti-Komintern-Pakt« zwischen Deutschland und Japan zustande. Ende des Jahres stand Österreich endgültig ohne Garantie-Macht da.

      Nach einem weiteren halben Jahr in Kalksburg, das erstaunlicherweise wie im Flug verging, waren wieder Sommerferien. Fräulein Alice und ich brachen nach St. Gilgen auf – ohne Vater, den wir im Laufe dieses Sommers 1937 noch weniger als sonst zu Gesicht bekamen. Um so weniger störte es mich, als ich im Herbst das geregelte Kalksburger Gymnasiastenleben wieder aufnahm. Es war so, wie wenn man ein bequemes, altes Paar Schuhe neuerlich anzieht.

      Als die Weihnachtsferien kamen, tauchte wie immer Fräulein Alice auf, betrachtete meinen bereitstehenden Koffer und fragte fröhlich: »Schauen wir einmal, was du mitnehmen willst.« Im zweiten Jahr meiner »Selbständigkeit« wehrte ich mich gegen solche Bevormundung und ließ sie das auch spüren.

      »Natürlich kannst du auch selbst packen, aber du weißt nicht, daß wir nach St. Anton fahren.«

      »Skifahren?«

      »Richtig, Skifahren«, sagte sie lachend, während ich beschämt den Inhalt des Koffers auf den Boden kippte. Wir fingen von vorne an.

      Zum Abendessen in Wien hatte Liesl keine Mühen gescheut, meine Lieblingsspeisen zu kochen. Ich stürzte mich auf den Tafelspitz und die köstlichen Salzburger Nockerln zum Dessert.

      »Fräulein Alice, fährt Vater dieses Mal mit?«, fragte ich, aus Erfahrung recht besorgt.

      »Ja natürlich, das ist die Idee des Ausflugs, dummer Bub. Wir werden im selben Zug fahren. Der Regierungswaggon wird an den Nachtzug angehängt. Da kann dein Vater mit seinen mitreisenden Ministern im Zug arbeiten, und es bleibt ihnen hoffentlich etwas mehr Freizeit in St. Anton. Das ist für sie alle wichtig, besonders für deinen Vater. Ich glaube nicht, daß er zuletzt mehr als vier Stunden pro Nacht geschlafen hat.« Sie seufzte. Die bessere Neuigkeit war, daß mein Freund Rudi Fugger auch in St. Anton sein würde.

      Die Bahnfahrt von Wien aus dauerte ungefähr zehn Stunden. Das Dritte-Klasse-Abteil, in dem Fräulein Alice und ich fuhren, machte mir nichts aus. Ich wäre auch im Gepäckwagen gereist, wenn nur Vater im Zug war. Ein kalter Windstoß traf uns, als wir in St. Anton ausstiegen und in eine Winterlandschaft wie im Märchen traten, soweit das Auge reichte von Schnee bedeckte Berge und Bäume. Der Bahnhof und die wartenden Schlitten waren mit Stechpalmenzweigen festlich geschmückt. Schnüre mit Glöckchen an den Geschirren der Pferde klingelten, sooft eines mit dem Huf aufstampfte oder die Mähne schüttelte. Über den Eingangstoren des legendären Hotels Post hingen Girlanden aus Tannenzweigen mit breiten roten Schleifen. Nach nur wenigen Minuten, die ich zum Auspacken in der Dependance des Hotels brauchte, machte ich mich auf die Suche nach Rudi. Schnell um eine Ecke biegend, rannte ich fast in ihn hinein.

      »Jemand hat sich bei den Reservierungen sehr bemüht. Ich bin im Zimmer neben dir.« – Nichts, was auch im entferntesten wie eine Begrüßung klang. Typisch Rudi!

      »Ich weiß. Und Fräulein Alice ist auf der anderen Seite.«

      »Was? Brauche ich ein Kinderfräulein?«

      »Du weißt, Rudi, daß man uns nicht allein in der Dependance wohnen läßt. Was hast du erwartet?«

      Fräulein Alices Dazutreten unterbrach unser Gespräch. Sie hatte wohl alles gehört, ließ es sich aber nicht anmerken.

      »Da bist du ja, Rudi. Gut. Jetzt werden wir dich gleich in deinem Zimmer einrichten.« Rudi sah mich von der Seite an. Ich erwiderte seinen Blick und hob die Augenbrauen. Wir würden ja sehen.

      Fräulein

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