Der einsame Mensch. Rotraud A. Perner
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Aus ebendiesen Gründen ist es unverantwortlich, Müttern ihre Neugeborenen wegzunehmen, wie es manchmal von Jugendämtern praktiziert wird. Selbst wenn eine Mutter psychotisch wäre und daher eine Lebensgefahr für ihren Säugling darstellen würde, gibt es mehr Alternativen als diese eine – man muss nur den Mut haben, sie auszudenken und zu realisieren. »Da Verbundenheit mit anderen Menschen die körpereigene Produktion von schmerzlindernden Botenstoffen aktiviert, kommt der Fähigkeit eines Menschen, sich auf gute zwischenmenschliche Beziehungen einzulassen, eine überragende Bedeutung für das Aggressionsverhalten zu«, weiß der Internist, Psychiater und Psychotherapeut und Professor für Psychoneuroimmunologie am Universitätsklinikum Freiburg, Joachim Bauer (* 1951).13 Ein Neugeborenes, das monatelang in Verbundenheit zum mütterlichen Organismus gewachsen ist, aus diesem »Biotop« zu reißen, ist nicht nur unprofessionell, sondern grausam. Und die Mutter zu zwingen abzustillen, entzieht dem Kind Gesundheitsressourcen: Es ist in jedem Entbindungsratgeber nachzulesen, dass gestillte Kinder nicht nur über stärkere Immunkräfte verfügen, sondern dass das Liegen am Herzen – und das Hören des gewohnten Herzschlags – das Urvertrauen begründet. Bis etwa zum achten Lebensmonat fühlt sich der Säugling noch eins mit der Mutter, erst danach beginnt er, Fremde als von sich Getrennte wahrzunehmen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man diese erste Mutterbeziehung ersetzen könne – selbst wenn es unvermeidlich ist, wie bei Tod im Kindbett, hat es doch Negativfolgen, die nur über spätere Trauerprozesse neutralisiert werden können.
Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich-Nielsen (1917–2012) schreibt: »Um sich von der Mutter lösen zu können, braucht das Kind etwa am Ende des zweiten Lebensjahres eine dritte Person, meist den Vater, der es sich zuwenden kann. (Hervorhebung von mir – R. A. P.) Das Bedürfnis des Kindes nach einer weiteren mitmenschlichen Beziehung – man nennt es sein ›Triangulierungsbedürfnis‹ – ist Ausdruck seiner zunehmenden Individuationsfähigkeit und fördert sein Streben nach größerer Unabhängigkeit.«14 Ich ergänze: Bei jeder Aufgabe, sich von Gewohntem zu lösen, hilft Unterstützung durch begleitende Dritte – was aber nicht bedeutet, dass diejenigen irgendwelche Aktivitäten, Sprechakte inbegriffen, setzen müssen oder sollten. Es genügt, wenn jemand Wohlwollender da ist, der einen in seiner Trauer aushält und damit bestätigt.
Genau dieses erahnte Urvertrauen bergender Zweisamkeit – das Eins-Sein mit einem duldsam gewährenden Du – suchen all diejenigen, denen Einsamkeit bewusst geworden ist.
Sigmund Freud (1856–1939) ist mit diesem »ozeanischen Gefühl« von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, das er mit der Quelle der Religiosität in Verbindung brachte15, sehr kritisch umgegangen: Er hat es als Regression – also als Rückschritt auf frühkindliches Verhalten – und als auf Gott projizierte Vatersehnsucht16 gedeutet. »Nur in einem Zustand, einem außergewöhnlichen zwar, den man nicht als krankhaft verurteilen kann, wird es anders. Auf der Höhe der Verliebtheit droht die Grenze zwischen Ich und Objekt zu verschwimmen.«17 (Hervorhebung von mir – R. A. P.) Ich sehe das nicht als Drohung, sondern als Chance! Was ich aber sehr wohl als Gefahr vermuten kann – und was in der Ozean-Metapher sinnhaft enthalten ist –, ist der Gedanke daran, dass man sich im Ozean zwar lustvoll dem Getragensein hingeben, dass man aber auch überflutet und von Todesangst ergriffen werden kann.
Freud, der mit zunehmendem Alter die Welt immer pessimistischer sah, gehörte offensichtlich nicht zu den Menschen, die dieses Aufgehen im anderen als positive Ich-Leistung bewerten. Denn es liegt ein Unterschied darin, ob man jemand anderen aus regressiven Abhängigkeitsbedürfnissen sucht – oder ob einem jemand zufällt und man stark und sicher genug ist, »ein Fleisch« zu werden.18 Es ist etwas anderes, sich in jemand anderen zu »entleeren« und bei Trennung nur mehr ein halber Mensch zu sein – oder sich »ganz einzubringen« und dennoch wieder ganz zu sein, wenn man sich räumlich trennt.
Zu diesen urtümlichen Bedürfnissen und Entwicklungsmöglichkeiten treten aber noch die durch »Propaganda« künstlich hervorgerufenen: Waren es früher die von Hof zu Hof ziehenden Minnesänger, die nicht nur durch die Inhalte ihrer Lieder, sondern auch mit tiefen Blicken und samtigen Stimmen Liebessehnsüchte bei den durch grobe Männer traumatisierten Frauen zu wecken wussten, sind es heute Film und Fernsehen sowie Schnulzen und Dreigroschenromane, die vor allem bei weiblichem Publikum die Sehnsucht nach seelischer Ergänzung hervorrufen.
Gedankenmuster
Der italienische Soziologieprofessor Francesco Alberoni (* 1929) sieht denn auch eine Geschlechterdifferenz, wenn es um die Zufuhr erotisch wirksamer Impulse geht.
Der Mann, schreibt der Autor, »imaginiert die Frau als mit typisch männlichen Impulsen ausgestattetes Wesen«, was bedeutet: »Das Begehren ist stets präsent und wird stets befriedigt. Pornografie ist das erotische Gegenstück zum Schlaraffenland, jener Fantasie, in der der Hungrige Flüsse aus Milch, Wein und Honig sieht und Bäume erblickt, an denen statt Früchten gebratene Hühner und Würste hängen.« – »In diesem Universum ist kein Platz für irgendein anderes Gefühl, irgendeine andere Art von Beziehung.«19 Dieses Image werde nicht nur durch die Männergruppe, sondern auch medial vermittelt, erklärt der Wissenschaftler – aber ebenso würden Frauen analog mit »rosaroter Literatur«20 bedient: »In Serienschnulzen lösen sich Schicksalsschläge immer als Missverständnisse oder Zweifel auf.« – »Eine solche Erotik hat nahezu nichts mit Sex zu tun. Sexuelle Beziehungen dürfen aber vorkommen. Vor allem in den neueren Romanen dieser Art ist die Heldin auch im körperlichen Sinn eine geradezu verzweifelt Liebende. Aber die tiefen Gefühle – also das, was an diesen Geschichten spezifisch erotisch ist – kommen nicht aus der sexuellen Beziehung, sondern aus Sehnsüchten und Schaudern.«21 Ich ergänze: und ebenso aus den audiovisuellen Modellen – beispielsweise aus der TV-Werbung für Internet-Partnerbörsen.
Jede erfolgreiche Werbung propagiert Verhaltensvorbilder, denen die Adressaten gleichen wollen. Gemeinsam statt einsam – und der Weg dorthin geht über den Kauf eines bestimmten Produkts oder einer Dienstleistung, und daher richtet sich die Inszenierung von Beziehungsidyllen an die Zielgruppe Frauen, während beispielsweise bei Deodorants für Männer vorgegaukelt wird, dass ihnen alle Frauen, betört vom Duft der herben Männlichkeit, nachlaufen würden – und man(n) wie in Alberonis Schlaraffenland gar nichts dazu tun müsse.
In der Realität sieht alles dann anders aus. Denn wenn der paarungsinteressierte Mann auf die beziehungsfreudige Frau trifft, sind deren beider Nervengespinste bereits voll von den medialen Vor-Bildern und werden unbewusst nachgeahmt. Fehlt aber ein Modell, macht sich ein Gefühl von Unbeholfenheit breit, das nur zu oft zu einer Art Schockstarre führt: Ideal-Ich und Real-Ich sind unbeachtet auseinandergedriftet und haben eine Leere eröffnet, die den Rückzug in Einsamkeit fördert – außer man hebt diese Situationsreaktion ins Bewusstsein und mag sich selbst, auch wenn man nicht dem propagierten Modell entspricht. Auch das zählt zur Selbstliebe.
Wir alle haben eine Biografie der Einsamkeit.
»Tritt ein Mensch in unseren Wahrnehmungshorizont, dann aktiviert er, ohne es zu beabsichtigen und unabhängig davon, ob wir es wollen oder nicht, in uns eine neurobiologische Resonanz«, betont Joachim Bauer. »Verschiedene Aspekte seines Verhaltens wie Blickkontakt, Stimme, mimischer Ausdruck, Körperbewegungen und konkrete Handlungen rufen in uns ein Spektrum von Spiegelreaktionen hervor«, und er präzisiert: »In Resonanz begeben sich Nervenzellnetze, die auch dann aktiv werden würden, wenn wir selbst täten, was wir gerade bei einem anderen Menschen beobachten.« Betroffen sind die Gehirnpartien, die den Körperempfindungen wie auch der Handlungsplanung dienen, und diese sind wiederum mit dem Emotionszentrum des Gehirns verbunden.22 Kurz gesagt: Gefühle sind ansteckend – selbst wenn sie von Schauspielern auf der Videowand stammen. Denn diese Art von unbeabsichtigtem und unbewusstem »Mentaltraining« erfährt