Der einsame Mensch. Rotraud A. Perner
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»Die Fähigkeit, allein zu sein, hängt davon ab, ob ein gutes Objekt in der psychischen Realität des Individuums vorhanden ist«, betont der bedeutende Kinderanalytiker Donald W. Winnicott (1896–1971).33 Das heißt, es muss am Beginn des Lebens zumindest eine neuronal prägende Erfahrung von kontinuierlicher Akzeptanz, Zuwendung und Verstehen erlebt worden sein. Logischerweise wäre dies die Aufgabe der biologischen Mutter, an deren Körper das Neugeborene ja bereits monatelang »von innen« eingewöhnt wurde. Nun soll es »Gewöhnung« nach der Geburt »von außen« lernen, um zunehmend längere Abwesenheiten der Mutter ertragen zu können. Das braucht üblicherweise ein Jahr und viel geduldige Zuwendung. Wer aber selbst keine »Neurosignatur der Liebe« oder auch nur »der Pflicht« besitzt, wird dieser Aufgabe nur schwer gerecht werden.
Dort, wo eine Großfamilie auch in Hausgemeinschaft lebte, fand sich vermutlich immer irgendjemand – Geschwister, Großeltern –, der zuverlässig auf die erkennbaren Bedürfnisse eines Kleinstkindes reagierte; für die heutigen Klein- oder Rumpffamilien bedeutet dies fast immer eine Überforderung – wenn man erwartet, dass diese Zuwendung nur von Blutsverwandten geleistet werden sollte. Es ist wichtig, dass jemand gegenwärtig und verfügbar ist, ohne Forderungen zu stellen, denn die Fähigkeit zum echten Alleinsein hat die frühe Erfahrung des »Alleinseins in Anwesenheit eines andere Menschen« zur Grundlage, so das Ergebnis der Forschungen Winnicotts.34
Reifungsschritte
Jedes Kind hat seine eigene Zeit, in der es den jeweils nächsten Reifungsschritt vollzieht. Wird es »vor der Zeit« forciert, wird es später kompensierende Symptome entwickeln – allerdings sind solche ohnedies so allgegenwärtig, dass dies kaum jemand mehr als Besonderheit wahrnimmt. Nur wenn jemand selbst unter Einschränkungen seiner Verhaltensmöglichkeiten leidet und sich in Psychotherapie auf die Suche nach seinem Seelengrund begibt, wird er oder sie die Zusammenhänge erkennen. Laien fehlt die qualifizierte Wahrnehmung, und populäre Symptomdeutungsbücher führen leider zu Fehleinschätzungen und behindern die persönliche Weiterentwicklung.
In einer gelungenen Therapie – es gibt leider auch misslungene – werden diese fehlenden »guten, inneren Objekte« nachentwickelt. Die »affektive Regulierung« – das Einwirken auf steuerungsbedürftige Emotionsaufwallungen – kann dann zunehmend durch innere Modelle ersetzt werden, sodass ein »verinnerlichtes Beziehungsgefühl« entsteht, das unterschiedliche Qualität haben und selbst auf- oder abgebaut werden kann35; das kann auch helfen, berechtigte Rückzugsimpulse auf psychischen Erholungsbedarf zurückzuführen – und nicht auf den Vorwurf von Fehlverhalten, wie es einem oft von anderen als Selbstrechtfertigung unterstellt wird.
Menschenjunge kommen »unfertig« zur Welt: Bis ihre Muskulatur stark genug ist, dass sie sich vom Boden erheben können und damit den ersten Über-Blick erzielen, vergeht rund ein Jahr – ein Jahr totaler Abhängigkeitserfahrung, wie wohl jedermann weiß, der einmal bewegungsunfähig war. Abhängig sein von anderen macht meist zornig aus Verzweiflung, egal wie alt man ist. Denn auch wenn dem Kleinkind noch die Worte fehlen, so spürt es doch den jeweiligen Zielimpuls in sich – man könnte formulieren: Es hat die Vision seines Ideal-Ichs – und erlebt sein Versagen. Hinsichtlich Patienten mit Alzheimer-Demenz sagte mir einmal ein Allgemeinmediziner: »Zuerst kommt das Versagen – dann kommt der Zorn – und dann kommt das Vergessen.« Wenn aber das Gedächtnis noch völlig funktionstüchtig ist, kommt vielfach Resignation. Kleine Kinder fallen dann oft um und schlafen blitzartig ein. Ältere Menschen pflegen oft Risikosituationen in vorauseilender Scham zu vermeiden und verabsäumen so die nötigen Lernschritte. Sie bräuchten Ermutigung, und diesen Bedarf müssen die möglichen hilfreichen anderen erst erkennen (können). Wer diese Unterstützung nicht selbst erfahren hat – und das sind die meisten Menschen – findet sie unnötig und verweichlichend und wird stattdessen mäkeln, bloßstellen oder strafen.
»Das zwischenmenschliche Erkennen und Anerkennen systematisch zu verweigern, ist ein Akt der Unmenschlichkeit und ethisch verwerflich«36, betont der Neuropsychiater Joachim Bauer. Viele Eltern und Personen, die sich als Experten in Sachen Kindererziehung fühlen, sehen das aber nicht so – sie meinen, »ungehorsame« Kinder könnten nur mit Härte zur Folgsamkeit »motiviert« werden; sie glauben, es sei ein Naturgebot, zwingen zu müssen, zu können und auch zu dürfen. Sie wissen nicht oder ignorieren, dass jegliche Gewalthandlung oder Vernachlässigung eines Kindes seit Ende des 20. Jahrhunderts strafbar ist.
»Es ist ja das Tragische, dass es keine einsamen Kinder ohne einmal in ihrer Kindheit einsam gewesene Eltern gibt«, stellt die Kindertherapeutin Lene Keppler fest. »Diese Eltern waren einst von ihren Eltern ›gebraucht‹ worden, das heißt, sie hatten Teile ihrer Persönlichkeit nicht voll entwickeln können oder fast ganz unterdrücken müssen, weil deren Eltern diese Persönlichkeitsanteile oder Verhaltensweisen, bedingt durch ihre eigene Lebensgeschichte, nicht wahrnehmen oder ertragen konnten.«37 Aber: »Mein Charakter ist nicht mein Schicksal«, wie die Wiener Präventivpsychologin Anneliese Fuchs titelt: Wenn wir erkennen, wen wir nachspielen und welche anderen, salutogeneren, d. h. Gesundheit, insbesonders die soziale Gesundheit, fördernderen, Verhaltensweisen auch wert wären, ausprobiert zu werden, können wir solchen »Familienflüchen«38 entkommen.
Es ist wichtig, dass jemand gegenwärtig
und verfügbar ist, ohne Forderungen zu stellen.
Charakterbildung
»Handlungen und Verhaltensweisen zu imitieren, die wir bei anderen beobachten, ist ein durch Spiegelneurone vermittelter menschlicher Grundantrieb«, weiß der Neurobiologe Joachim Bauer. »Er ist bei Säuglingen und Kleinkindern noch völlig ungehemmt. Was sie bei ihren Bezugspersonen sehen, versuchen sie intuitiv und unwillkürlich nachzuahmen.« Das motiviert dann auch beispielsweise Erwachsene dazu, das Kind mit »Mund-auf-Mund-zu-Spielen« zur Spiegelung zu verlocken. »Das Kind benutzt das Imitationsverhalten nicht nur als eine erste Möglichkeit zur Kommunikation, sondern macht mit dessen Hilfe auch seine ersten Lernerfahrungen.«39 Allerdings, so Bauer, beginnen nach etwa eineinhalb Jahren Hemmungsmechanismen aufgrund der nunmehr erreichten neurobiologischen Reife einzusetzen und die Imitationsneigung zunehmend zu kontrollieren.
Das Kind reproduziert wie später auch Erwachsene zunehmend Verhaltensweisen anderer vor allem dann, wenn es dafür »positive Verstärkung« gibt. Bauer schreibt: »Wir übernehmen, vor allem bei erhöhter Sympathie oder wenn wir auf jemand ›eingestimmt‹ sind, unbewusst körperliche Aktionen anderer Personen. Wir gähnen, wenn andere gähnen, wir spiegeln unwillkürlich den Gesichtsausdruck unseres Gegenübers und ahmen bestimmte Verhaltensweisen nach, etwa indem wir uns am Kopf kratzen, die Beine übereinanderschlagen und Ähnliches. Und ab und zu geraten völlig gesunde Erwachsene in bestimmte ›Zustände‹, in denen die Kontrollmechanismen über die Spiegelneurone nahezu versagen. Ein solcher Zustand ist beispielsweise die Liebe.«40
Befinden sich Liebende – und dazu gehören auch Eltern, die ihre Kinder lieben – in Resonanz, vermittelt der Energiefluss von Herz zu Herz ein Gefühl von Weite und Wärme. Wärme ist eine Form von Energie. Der Volksmund spricht von warmherzigen und kaltherzigen Menschen – dabei wird aber vergessen, wie jemand so oder so geworden ist und auch, dass wir alle an der Aufrechterhaltung oder Veränderung dieser Zustände mitwirken (können), je nachdem, ob wir anderen Angst machen oder Zutrauen einflößen.
Der Psychoanalytiker Fritz Riemann (1902–1979) hat in seinem Grundsatzwerk aller psychosozialen Berufe, Grundformen der Angst,