Der einsame Mensch. Rotraud A. Perner

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Der einsame Mensch - Rotraud A. Perner

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kenne Männer und noch mehr Frauen, die nur in ihre »Außenfassade« Zeit und Energie investieren, ihre innere Reifung aber vernachlässigen. Bei Joachim Bauer findet sich der Satz: »Unsere neurobiologischen Potenziale entfalten sich nur in unterstützenden sozialen Kontexten«45, und dazu zählt auch »die Fähigkeit zur Übersicht über ein System mehrerer miteinander interagierender Menschen, die Fähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen und abzuschätzen, welche Folgen das eigene Verhalten auf das Verhalten anderer haben wird.«46 Zum Beispiel die Folge, »gewogen und zu leicht befunden« zu werden.

      Selbst die sogenannten »geborenen« Eigenbrötler haben Negativerfahrungen mit Konkurrenz und oft fühlen sie sich zu Recht benachteiligt.

      Ich finde es daher unabdingbar, Lehrkräften praktisches Rüstzeug zum Erkennen und Vermeiden von durch pädagogische Fehler ausgelösten Traumatisierungen zu vermitteln. Dazu ist es notwendig, dass sie sich mit ihren eigenen Dominanzbedürfnissen auseinandersetzen. Bindung, Akzeptanz und Zugehörigkeit seien überlebenswichtig, betont Joachim Bauer.47 Sie betreffen nicht nur die ersten Lebensjahre daheim, sondern jeden Eintritt in eine andere Lebensphase bzw. in ein anderes »System« – wie das »System« Schule oder Arbeitswelt.

       Übergangsriten

      Auch wenn heute viele Traditionen als unmodern aufgegeben wurden – die darunter verborgenen Grundbedürfnisse sind am Leben und suchen sich neue Formen.

      Traditionell wurden Menschen in Übergangszeiten von der jeweiligen Gemeinschaft rituell »ernannt«, d. h. mit einem bestimmten Namen belegt, aufgenommen, begleitet und verabschiedet. Dies bedeutet einerseits soziale Unterstützung, andererseits aber auch gesellschaftliche Kontrolle – doch gerade die Letztere wird heute oft gescheut, vermutlich um »gute Ratschläge« zu vermeiden. Diese werden zumeist als überhebliche Besserwisserei schmerzhaft empfunden: Sie lassen den Menschen, die gerade eine neue Identität erarbeiten müssen, zu wenig Raum zur Selbstfindung.

      Wenn immer wieder Menschen, vor allem Frauen, in Beratung oder gar Therapie kommen, um herauszufinden, weshalb sie zu den »großen« Familienfeiern nicht eingeladen oder stattdessen diskriminiert und/oder isoliert wurden, zeigt sich deren Wunsch, sich »in Beziehung setzen« zu dürfen – aber das ist vielen anderen schon zu nahe und sie wehren auf grobe Weise ab. Es fehlen Modelle einer gewaltverzichtenden Kommunikation48: Gewalt liegt nach dem Friedensforscher Johan Galtung (* 1930) immer dann vor, wenn eine feindselige (unerwünschte) Handlung das Potenzial der insultierten Person verletzt (eine Impfung also nicht, weil sie das Potenzial fördert). Viele Menschen wollen ihre eigene Gewalttätigkeit, die beispielsweise in Überheblichkeit – Kommunikation »von oben herab« – liegt, nicht wahrhaben und werden aggressiv, wenn man sie darauf hinweist. Dies stellt nämlich einen Versuch dar, Gleichrangigkeit – Kommunikation auf Augenhöhe – herzustellen, und das spüren die »Reiter auf dem hohen Ross« intuitiv und wehren sich dagegen. Umgekehrt gibt es aber immer mehr Leute, die von vornherein versuchen, durch Verweigerung von Achtungsgesten (z. B. durch inkorrekte Ansprache oder durch herabwürdigenden Tonfall) »von unten hinauf« Respektspersonen niederzuringen. All diese Fehlkommunikationen sind Situationskrisen: Es besteht die Gefahr eines Machtkampfes und der kann leider immer eskalieren.

      Da heute vielfach Rituale abgeschafft wurden – beispielsweise die sogenannten Benimm-Regeln –, ergibt sich aber die Notwendigkeit, die jeweilige Umgangsform zu vereinbaren. Wer da nicht mitspielt, findet sich schnell isoliert.

      Der französische Ethnologe Arnold van Gennep (1873–1957) unterscheidet Trennungsriten, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten und Angliederungsriten.49 Bei allen dominiert eine spezifische Gemeinschaft, die jemanden verabschiedet, aber auch den »Hinterbliebenen« Stabilität spendende Betreuung bietet, oder den Eintritt in eine neue Identität begleitet oder aber in eine besondere »Familie« – wie beispielsweise auch die Männer- oder Frauen- oder Kämpfer- oder Priestergruppe – aufnimmt. Das kann auch sehr schmerzhaft sein.

      Ich kann mich an ein Wochenseminar im Rahmen meiner Ausbildung zur Erwachsenenpädagogin an der Wiener Pädagogischen Hochschule erinnern, das außerhalb von Wien stattfand. Zwischen den Theorieblöcken sollten wir animierende Übungen kennenlernen (die ich allerdings für Erwachsene unpassend fand). Eine dieser Übungen war für mich als bekennende Legasthenikerin unmöglich, da man die Hände in schnellem Wechsel wie bei den Rösselsprüngen im Schachspiel bewegen musste. Ich protestierte mit dem Hinweis, dass damit Außenseiter produziert würden. Ich blieb mit dieser Sichtweise allein; zu dem Schmerz des Versagens trat der Schmerz der Isolierung als potenzielle Spaßverderberin – denn diejenigen, die die Übung kannten bzw. beherrschten, fanden sie nur lustig. Sie hatten offensichtlich keine alte Neurosignatur der verweigerten Gruppenzugehörigkeit, wie sie wohl alle Schüler und Schülerinnen kennen, die damals in Schulzeiten zeitweise zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn oder auch zu widerstandsmutig waren.

      Der Fairness halber möchte ich erwähnen, dass der Gruppenleiter einen halben Tag später, beim Abendessen, öffentlich bezeugte, dass er mich erst jetzt verstanden habe und mir daher recht geben wolle: Man müsse bei Übungen immer auch im Sinne von Diversität daran denken, dass das, was für die einen Ulk sei, für andere Bloßstellung von Schwächen bedeuten könne.

      Genau das verstehe ich unter sozialer Kontrolle: nicht die Gleichmacherei womöglich mit Hilfe von Inszenierungen von Scham und Schuld, wie sie von manchen Werbungen in den Medien beabsichtigt sind, sondern Rücksichtnahme auf diejenigen, die vielleicht langsam, unbemittelt oder auch konsumverweigernd sind. All denen möchte ich Mut machen, Verständnis und Solidarität einzufordern anstatt sich schamhaft in Einsamkeit zurückzuziehen.

      Gruppen benutzen Schuld und Scham, um die Konformität und den Zusammenhalt zu erhalten, wobei sich Scham in einer Tendenz zur Geheimhaltung manifestiert, Schuld hingegen motiviert zu beichten und sich zu offenbaren, weiß der Psychoanalytiker Jens L. Tiedemann.50 Deswegen scheuen sich nur wenige, jemanden zum Sündenbock zu stempeln: Sie rechnen damit, dass man ihn – beladen mit den Sünden der Gemeinschaft – nicht wie im Altertum in die Wüste jagen muss, sondern dass er oder sie sich selbst »exiliert«; ein klassisches Beispiel dafür sind Mobbingopfer. Scham, so betont Tiedemann, verletzt nämlich nicht nur zwischenmenschliches Vertrauen, sondern auch die innere Sicherheit.51 Und, ergänze ich, damit auch das Selbstwertgefühl, die Identität der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bezugsperson oder -gruppe und damit die soziale Gesundheit.

      Bindung, Akzeptanz und

      Zugehörigkeit sind überlebenswichtig.

      Als heranwachsende Jugendliche stehen wir alle vor der Anforderung, uns selbst als Einzelne wie auch als Teile von Gruppierungen (Paarbildung mitgemeint) zu formen. Dafür gibt es heute eine Unzahl von Modellen – dafür sorgt schon die Produktwerbung, die auf »Kundenbindung« aus ist –, aber kaum einen begleitenden Beistand ohne eigene Absichten (wie beispielsweise Mitgliederfang politischer Parteien, besonders auffällig im Nationalsozialismus). Diese Suche nach sich selbst samt kosmetischen oder chirurgischen Körpermodifikationen, schreibt der Psychoanalytiker Mathias Hirsch (* 1942), dehnt sich heute häufig bis ins vierte Lebensjahrzehnt.52 In der Dysmorphophobie (d. h. die Angst, nicht schön zu sein) könne man die Körperkrankheit der Adoleszenz sehen, wobei die Angst vor der unbekannten Identität als Frau oder Mann auf Körperteile »verschoben« wird53 – und dies liefert wiederum einen Vorwand, sich nicht in Gemeinschaft begeben zu müssen. Ein klassisches Beispiel liefern junge Mädchen, die vor Bällen oder anderen »Herzeige-Veranstaltungen« an ihrer Haut herumdrücken, an ihren Haaren herumschnipseln oder sonst eine selbstschädigende Aktion setzen, bis sie sich so verunstaltet haben, dass sie den Stress-Auftritt vermeiden können.

      In einer Welt überwiegend virtueller Kommunikation über SMS und Internet kann man diese Konfrontation »face to face« vermeiden

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