Der einsame Mensch. Rotraud A. Perner

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Der einsame Mensch - Rotraud A. Perner

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wir traute Zweisamkeiten – oder Geborgenheit in Familien oder anderen Gruppierungen –, egal ob live oder auf einem Bildschirm, löst das bei uns neuronale Aktivitäten aus: Je nach Biografie werden wir sehnsüchtig, neidisch, verbittert oder zornig (oder wie auch immer wir unsere noch namenlose Emotion benennen).

       Liebesentzug

      Denn auch zu einer bewussten Ablehnung solcher Imitations-Verlockung benötigt man eine erfolgversprechende Neurosignatur für Verweigerungsverhalten – nach innen wie nach außen. Man muss innerlich die Botschaft hören »Ich will das nicht!« und nach außen eine sozial verträgliche Sprachform erwerben. Genau deren Ansätze werden jedoch »trotzenden« Kleinkindern mit Schimpf, Spott und Strafe strikt verboten, anstatt sie auf prosoziale Formen zu korrigieren.

      Zu den häufigsten Strafen für kleine Kinder gehört der sogenannte Liebesentzug: keine Süßigkeiten, keine Spiele, keine Blicke, keine Worte. Da Kindern lange Zeit der Vergleich mit den Verhaltensweisen in anderen Familien fehlt, kennen sie keine Alternativen; sie vertrauen der Allmacht und Allweisheit ihrer Erziehungspersonen und suchen die Schuld für deren Ablehnung bei sich selbst – und manche erkennen nie, dass sie Opfer von Unsicherheit und Unwissenheit oder aber Unbeherrschtheit sozial inkompetenter Menschen geworden sind. Sie denken dann: Es muss an mir liegen, dass man mich nicht mag. Und: Man kann mich einfach nicht mögen.

      Viele Sozialphobien und in deren Folge Einsamkeit wurzeln in erlebter mangelnder Fürsorge derjenigen, deren Obhut man anvertraut war. Solche Mängel finden sich nicht nur bei Eltern und anderen nahen Anverwandten – sondern ebenso bei Angehörigen von Bildungs-, Gesundheits- und Sozialberufen wie auch bei vielen Arbeitgebern … und auch bei allen, die Zeugen von solch traumatisierendem Fehlverhalten werden und wegschauen.

      Als Trauma werden meist nur Folgeerscheinungen von massivem Gewalterleben, Unfälle inbegriffen, verstanden. Dabei wird übersehen, dass man als Trauma jedes Erleben klassifizieren kann, zu dessen Bewältigung adäquate Verhaltensmuster fehlen.

      Tiere reagieren mit Kampf, Flucht oder Totstellen, wenn sie in ihrer Sicherheit beeinträchtigt werden. Ich nenne das das »Stammhirn-Repertoire«. Menschen hingegen besitzen zusätzlich zu diesem archaischen Erbe eine entwickelte Großhirnstruktur, die sich vor allem durch Sprache und Reflexionsfähigkeit – die mehr oder weniger ausgeformte Kompetenz, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu denken – auszeichnet; aber auch diese Anlagen müssen erst eingeübt und dadurch verdichtet werden! Aus dem dazu dienlichen »inneren Dialog« zur Selbstbesinnung und Abwägung von Verhaltensalternativen wird dann statt Kämpfen Verhandeln, statt Flucht Distanzierungsverhalten und statt Totstellen bedachtes Abwarten. Damit kann anstelle der Einsamkeit des Unterlegenen, Weglaufenden oder Schockerstarrten eine selbstbestimmte Handlung erwachsen, und wenn diese im wohlbedachten Rückzug besteht, entspricht das nicht dem leidvollen Gefühl von Einsamkeit, sondern dem von Selbstschutz und Selbstachtung.

      Würden also die Bezugspersonen der frühen Kindheit wissen, was sie in Hinkunft durch Liebesentzug anrichten könnten, würden sie wohl auf diese »schwarze Pädagogik«23 verzichten – außer sie sind bewusste Sadisten. Liebesentzug dient immer nur der Kontrolle. Mit Förderung bzw. Lebensvorbereitung hat dies nichts zu tun, auch wenn es immer wieder behauptet wird. Wer aber erkannt hat, wie er oder sie durch Liebesentzug zu »Pflegeleichtigkeit« manipuliert wurde, kann trainieren, die dadurch hervorgerufene verzweifelte Unterwerfungsbereitschaft durch selbstachtende Distanzierung loszulassen.

      Man muss eigentlich nur die angezüchtete Illusion vermeiden, Eltern täten alles nur zu unserem Besten. Eine Postkarte kommt mir in den Sinn: darauf ein Bär mit Sprechblase »Alle wollen nur mein Bestes – aber ich geb’s nicht her!« Und wie immer: Auch hier muss man erst die passende Nervenverdrahtung aufbauen – doch wenn man das erkannt hat, kann man das autonom und ohne professionelle Besserwisser. Man muss sich nur fragen, welche anderen Reaktionsmöglichkeiten es gäbe … und diese vor dem geistigen Auge vorbeiziehen lassen und sich »einspiegeln«. Am Abend die Erlebnisse des Tages Revue passieren zu lassen und selbstkritisch Verbesserungsbedarf zu orten, reicht oft, um sich vorzustellen, wie alternatives Verhalten gewesen wäre.

      Liebesentzug dient immer nur der Kontrolle.

      In der Transaktionsanalyse, einer psychotherapeutischen Schule, heißt diese Form der Veränderung von Verhaltensmustern »Drehbuch schreiben«: Man stellt sich entspannt vor, man sei der Drehbuchautor und auch Regisseur seines eigenen Lebensfilms und schreibe das Skript für den Helden, die Heldin – also sich selbst – einfach um.24

      Wichtig dabei ist aber auch, ergänze ich, den Souffleur – den andauernd kommentierenden »Kopfbewohner«25 – liebevoll »in Pension zu schicken«. Denn nur zu oft sind seine Worte die Sätze der verinnerlichten Bezugspersonen der frühen Kindheit, die warnen: »Wenn du so trotzig bist, wird dich nie jemand mögen!« Dieser unwahre Satz – denn wer weiß schon, was die Zukunft bringt – hat Verwünschungs-Charakter! Er kann zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden, wenn man an ihn glaubt.

      Sobald sich aber solche Sätze wie so oft unbedacht im sprachlichen Standard-Repertoire einer Großfamilie breitgemacht haben, können sie zur Selbstwert und Gesundheit schädigenden Litanei werden. Man traut sich dann nichts mehr zu, verhält sich ungeschickt oder unschicklich und vertreibt mögliche Freunde und Liebhaber, bleibt damit allein zurück und bestätigt so ungewollt den Fluch.

       Der Blick durch das Teleskop der Zeit

      Man muss nicht schwer traumatisiert sein, um sich anders zu fühlen als diejenigen, die dem Idealbild der jeweiligen Kultur entsprechen.

      Viele kleine Mikrotraumata von Ablehnung und Abwertung haben denselben Effekt: Man bleibt in der historischen Situation der Traumatisierungen stecken. Denn was alle Traumata eint, ist das Stehenbleiben der Lebenszeit für die paar Sekunden oder Minuten des Außer-sich-Seins, bis man wieder »bei sich« ist.26

      Deshalb ist es wichtig, solche Situationen im Nachhinein erklärt zu bekommen, aber dazu auch eine Anleitung, wie man wieder zu sich kommt: indem man nämlich das Erlebte wieder und wieder erzählen darf und mitfühlende Zuhörer hoffentlich beweisen, dass man auch ein achtens- und liebenswerter Mensch ist, wenn man »beschädigt« wurde. Dadurch wird nämlich nicht nur die Einbindung in die soziale Gemeinschaft bestätigt und die soziale Gesundheit gefördert, sondern die beeinträchtigte Person gewinnt auch Zuwachs an Heilungsenergie – so wie ein afrikanisches Sprichwort sagt: Der Mensch ist dem Menschen ein Heilmittel.

      In Europa heißt es dagegen: homo homini lupus est – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

      In Gruppendynamik-Seminaren gibt es eine Übung, in der man eine Person aus dem Zimmer schickt, um in Ruhe eine kurze Rede vorzubereiten. Den im Raum Verbleibenden wird aufgetragen, auf die Präsentation des Kollegen oder der Kollegin zuerst desinteressiert bis störend zu reagieren, danach aber auf Interesse und Zustimmung umzuschalten. Der Sinn der Übung liegt darin, ersichtlich zu machen, wie leicht man durch Aufmerksamkeitsentzug gestresst, ja sogar in tiefe Verzweiflung gestürzt werden kann. Ich erinnere gerne an Max Frisch, der einmal darauf hingewiesen hat, dass jede gelingende Kommunikation vom Wohlwollen des jeweils anderen abhängt. Ich ergänze: nicht nur vom Wohlwollen, sondern vor allem auch von den Absichten – ob jemand auf Rücksicht und Partnerschaft bedacht ist oder auf Dominanz und Unterwerfung abzielt, und das unabhängig von Alter, Geschlecht oder anderen differenten Eigenschaften.

      Ich habe diese Übung im Rahmen der vielen Seminare kennengelernt, in denen wir Nachwuchspolitiker/innen damals in den 1970er Jahren auf Widerstandskraft gegen Störversuche bei Reden in Volksvertretungen vorbereitet wurden. Man kann

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