Der einsame Mensch. Rotraud A. Perner

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Der einsame Mensch - Rotraud A. Perner

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auf Situationen mit vermutlicher Gefahr psychischer Verletzungen. Denn: Auch wer sich selbst zur Waffe macht und gleichsam zu einem Pistolenlauf verengt, schadet der eigenen seelischen wie sozialen Gesundheit.

      Wenn jemand »aus der Rolle fällt« – egal, was vorher Auslöser war –, kann man ziemlich sicher sein, dass sich die Mehrheit der Anwesenden peinlich berührt zurückzieht. Die »Rolle«, die damit nachdrücklich eingefordert wird, ist die des »standhaften Zinnsoldaten«: Ohren steif halten, Zähne zusammenbeißen, keine Wehlaute von sich geben, dulden. In dem – tatsächlich zu Unrecht – traditionell als konservativ etikettierten Niederösterreich gibt es dazu das Scherzwort »Hände falten, Goschen halten!«

      Die Aufforderung, die Kieferpartie fest zu verschließen – und ja nicht auf animalische Weise zuzubeißen, bissige Bemerkungen zu machen oder auch nur zu seufzen –, führt schnurstracks zur »depressiven Maske«. Mit diesem Namen wird der starre Gesichtsausdruck diagnostiziert, der schwerere depressive Episoden begleitet.

      Dazu: Im denkmalgeschützten Jugendstiltheater auf dem Gelände des Psychiatrischen Krankenhauses der Stadt Wien führten vor Jahren Patienten ein Stück auf mit dem weisen Titel »Strategien gegen die Trauer: das Saufen – das Reden«. Wem das Reden – und sei es nur indirekt – verboten wird, wird suggeriert, er oder sie möge sich jeglicher menschlichen Regung enthalten, kurz: sich tot stellen. Das hat zwar auch einen Vorteil – man wird dann leicht übersehen und erspart sich möglicherweise weitere Angriffe. Auf Dauer wird man aber zu nichts gemacht – seelisch vernichtet – wenn man keine bewussten mentalen Gegenmaßnahmen setzt. Als Kind kann das noch niemand – aber wenn man auch später keine Anleitung findet, bleibt meist nur die Zuflucht bei den sprachlosen Leidensgefährten, und die findet man am leichtesten in Wirtshäusern. (Frauen wählten dagegen das Reden und suchten den Beichtvater auf oder Frauengruppen.)

       Zu nichts machen

      Wenn wir in die Geschichte zurückblicken, zeigen sich immer wieder Machtkämpfe, in denen Verachtung, Boykott, Isolierung einerseits, Verbannungen und Deportationen andererseits als Mittel zur gezielten psychischen Vernichtung angewandt wurden. Das hat seinen Anfang bei ungewollten, ungeliebten Kindern, setzt sich in der Schule fort, wo Lehrkräfte unbewusst die Schüler bevorzugen, die ihren Erwartungen entsprechen, führt über die geheimen Auswahlkriterien beliebter Teenager, Partnerpersonen und Mitarbeiter bis zu den Wahlmodalitäten für politische Mandatare – und dem Umgang mit den Konkurrenten und Opponenten, die durch den Psychoterror der Ignoranz und Exklusion zum Aufgeben veranlasst werden sollen.

      Aber nicht nur auf national- und religionspolitischen Ebenen kann man den Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft als Attacken auf die psychosoziale Gesundheit beobachten – auch in kleineren Gruppen, in denen Nähe eigentlich zu Mitgefühl und Kooperation motivieren sollte, wie Arbeitsteams, Nachbarschaften und leider auch in Familien, wird versucht, Menschen mittels gewaltsamer Ausgrenzung oder Ausschlussandrohungen zur Anpassung zu zwingen. Vor allem Frauen und all diejenigen, von denen man keine körperliche Gegenwehr erwarten musste.

      Es ist knapp hundert Jahre her, dass Frauen von Bildung, Selbstbestimmung und politischen Rechten ausgeschlossen waren, und das mit Berufung auf Natur und Gottgewolltheit, später mit absurden Argumenten wie dem vom kleineren Gehirngewicht im unfairen Vergleich zu dem des – meist größeren und schwereren – Mannes begründet wurde (statt die Vernetzungsdichte zu bewerten, von der bekanntlich die Intelligenz abhängt). Wie es den Frauen psychisch ging, in denen ein wissensdurstiger Geist, ein kämpferisches Naturell und ein starkes Herz brannten, war uninteressant – sie hatten sich der verordneten Rollenteilung zu fügen. Vielen blieb nur der Rückzug in eine einsame Traumwelt.

      Behilflich bei diesen mentalen Vergewaltigungen rollenbildferner Personen waren immer schon die Medien, denken wir etwa an Friedrich Schillers »Lied von der Glocke«, das meine Generation noch auswendig lernen musste, damit die Ideologie sich nur ja im semantischen Gedächtnis verankert. Darin finden sich die rollenzuweisenden Zeilen: »Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben,| Muss wirken und streben | Und pflanzen und schaffen | Erlisten, erraffen | Muss wetten und wagen | Das Glück zu erjagen.« Und »Drinnen waltet | Die züchtige Hausfrau, | Die Mutter der Kinder, Und herrschet weise | Im häuslichen Kreise, | Und lehret die Mädchen | Und wehret den Knaben, | Und regt ohne Ende | Die fleißigen Hände, | Und mehret den Gewinn | Mit ordnendem Sinn.«27

      Männer, die das soldatische Heldentum verweigerten, wie auch Frauen, die nicht daheim walten wollten, sondern etwa die Natur studieren und ihre Heilmittel, wurden verfolgt und ermordet – oder sie vermieden die als verständnislos bzw. feindlich erlebte Gesellschaft. Diese Angst vor Vernichtung lebt noch immer im kulturellen Gedächtnis und wird durch die Werke von Dichtern und Schriftstellern am Leben erhalten.28

      Rollenteilung wird noch immer von vielen als naturgegebene Arbeitsteilung verteidigt. Dabei ist sie ein historisch-politisches Konstrukt, das in bestimmten Zeiten und Regionen von den jeweils Herrschenden nach deren Interessen – beispielsweise zur Sicherung legitimer Nachkommenschaft oder der Verheiratung aus ökonomischen oder dynastischen Gründen gegen den Willen der Frau – verordnet wurde. Dass dazu mögliche Liebespaare in Isolation gehalten werden mussten, war klar; wohin das führen konnte, zeigte William Shakespeare in seinem Drama Romeo und Julia – aber auch so mancher Bericht in der Tagespresse über die »mittelalterlichen« Gebräuche in anderen Kulturen.

      Wie ein afrikanisches Sprichwort sagt:

      Der Mensch ist dem Menschen ein Heilmittel.

      Das Naturargument aber, so schreibt der im vorigen Jahrhundert viel gelesene und zitierte Jurist und Psychologe Volker Elis Pilgrim (* 1942), wird immer dann bemüht, wenn etwas nicht kritisiert werden soll: »Wenn eine Gesellschaft etwas als natürlich erklärt, will sie damit nur ausdrücken, dass sie etwas für unangetastet wünscht. Dagegen bedeutet das Etikett ›unnatürlich‹, dass das damit gekennzeichnete Verhalten missbilligt wird und von jedermann angegriffen werden kann.«29 Auch damit soll unerträgliche Einsamkeit als Mittel zum Anpassungsdruck gezielt hervorgerufen werden.

      2Die Einsamkeit der Lebenskrisen

       Warum man in Krisenzeiten Beistand braucht

      Auch wer der Selbstbestimmung fähig ist,

      kann sich seiner Wünsche und Absichten,

      Hoffnungen und Erwartungen so wenig ein für alle Mal sicher sein

      wie der äußeren Lebensumstände, in denen er sich

      in seiner jeweiligen Gegenwart befindet.

      MARTIN SEEL30

      Bevor wir mit Mimik, Gestik und vor allem Worten zu dem jeweiligen Kulturstandard der Region und Zeit, in die wir hineingeboren wurden, diszipliniert (von lat. discipulus, Schüler) werden – und dadurch viel von unserem inneren Ahnen und Erkennen verlieren –, spüren wir schon intuitiv, ob wir willkommen oder in der zur Gesundheit nötigen Akzeptanz gefährdet sind. Das haben die Erfahrungen der französischen Säuglingspsychoanalytikerin (Ja, so etwas gibt es! Und die Heilungserfolge beweisen die Notwendigkeit und Wirksamkeit!) Caroline Eliacheff gezeigt.31

      Als erwachsene Menschen können wir zwar mit der Zeit Übung darin gewinnen, Ablehnung durch andere zu ignorieren – aber wenn wir üben, unsere Wahrnehmung einzuschränken, verlieren wir die Kompetenz der Achtsamkeit und damit auch die Achtsamkeit uns selbst gegenüber. Deswegen sind hier Vorbilder und erklärender Beistand so wichtig, damit wir

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