Der einsame Mensch. Rotraud A. Perner
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Diese sogenannten »Schizoiden« wählen gerne Berufe, in denen sie Nähe zu anderen Menschen vermeiden können: Sie streben Spitzenpositionen an, die ihren Gegenparts viel zu anstrengend wären, weil sie dann, von dienstbaren Geistern abgeschirmt und nur auf Anforderung »versorgt«, »unbehelligt« ihre Vorhaben »autonom« planen und »ungestört« realisieren können. Sie lieben Podien und Bühnen, die sie vom Publikum trennen, Kanzeln, Katheder, Richtertische oder Cockpits. Selbst wenn sie gelegentlich Nähe suchen, wenn sie sich beispielsweise verliebt haben, inszenieren sie Einseitigkeit: Sie wollen alles unter Kontrolle haben und bestimmen können – zu schmerzlich sind ihre vergangenen Erfahrungen von Manipuliertwerden, Ignoriertwerden, Verweigerung und, alles zusammen genommen, Überforderung ihrer Frustrationstoleranz und Resilienz41. Und meist werden sie deswegen sogar noch von Schuldgefühlen geplagt: »Warum bin ich nicht so perfekt, dass ich keine Schuldgefühle habe?« Ich sage dann immer: »Eben weil jemand perfekt – vollkommen – ist, hat er/sie auch Schuldgefühle – sonst würde ja etwas aus der möglichen Vollständigkeit fehlen!«
Zu den von ihm als »schizoide« Charaktere bezeichneten Menschen schreibt Riemann: »Besonders leicht kommt es zu solchen frühen schizoidisierenden Schädigungen auch bei den von Anfang an ungeliebten oder unerwünschten Kindern; weiter bei solchen, die frühen Trennungen, etwa durch längere Klinikaufenthalte wegen Erkrankungen, oder dem Verlust der Mutter ausgesetzt waren. Gleiches gilt bei lieblosen oder zu gleichgültigen Müttern, bei zu jungen Müttern, die für die Mutterschaft noch nicht reif waren, gilt auch für die ›Goldener-Käfig-Kinder‹, die oft lieblosem oder gleichgültigem Personal überlassen werden, weil die Mutter ›keine Zeit‹ für sie hat; auch die Mütter, die nach der Geburt zu früh wieder arbeiten und das Kind zu lange sich selbst überlassen müssen, können ihm nicht das geben, was es hier braucht.«42
Ich möchte im Zusammenhang mit diesen Riemann-Zitaten davor warnen, sie als Schuldzuweisung gegen Mütter zu missbrauchen: Sie zeigen nur Zusammenhänge auf, die oft unvermeidlich sind – denken wir nur an die im Krieg und während Naturkatastrophen geborenen Kinder, vor allem aber an die Mütter, die vom Kindesvater im Stich gelassen fernab ihrer Herkunftsfamilien sich und ihre Kinder existenziell durchbringen müssen. Man muss immer die sozialen Umstände mitberücksichtigen – und sich selbst fragen, was man denn selbst dazu beitragen kann bzw. beigetragen hat, die Belastungen der Nächsten zu vermindern.
Kreuzwege
Helfer gegen unerwünschte Seelenlasten finden sich an einer »Wegkreuzung« wie in der Sage von Herakles, in der dem in einsamer Gegend Zaudernden zwei Frauen begegnen: Die erste, aufgedonnerte, verspricht Lust und Genuss, tut jedoch auf Befragen kund, dass ihre Freunde sie Glückseligkeit, ihre Feinde hingegen Liederlichkeit nennen; die zweite, die Tugend, will keine Genüsse vorspiegeln, sondern lehrt, dass nichts Gutes ohne Arbeit und Mühe gewährt wird: Wolle man von seinen Freunden geliebt werden, müsse man diesen nützlich werden, wolle man vom Staat geehrt werden, müsse man ihm Dienste leisten; wolle man ernten, so müsse man säen, wolle man seinen Körper in der Gewalt haben, so müsse man ihn abhärten etc.43 Herakles wählt bekanntlich den zweiten Weg und wird nach vielen Herausforderungen der Held, von dem wir heute noch sprechen.
Die Wahl des Lebensweges stellt sich immer und jedem Menschen, auch wenn er sich dessen gar nicht bewusst sein mag, und gipfelt in der Frage: Was für eine Frau – was für ein Mann – will ich sein?
Der mühevolle, unattraktive Weg wäre der der schonungslosen Selbsterforschung: Wer bin ich derzeit, wie bin ich so geworden und wer möchte ich werden? Üblicherweise führt dieser Rückzug auf sich selbst in Exerzitien oder in eine Langzeitpsychoanalyse.
Der verführerische, schöne Weg hingegen verspricht Allmacht gegen die Ohnmachtsgefühle, dass man eben nicht so toll ist, wie man möchte, und nicht den sozialen Erfolg erzielt, von dem man sich Beglückung erwartet. Dieser Weg ist gesäumt von Trainern und Coaches, die je nachdem Techniken zur Erlangung von Durchsetzungsstärke, Finanzerfolg, Liebesglück oder einfach nur Macht versprechen.
»Heute, vor allem nach dem Niedergang sogenannter sozialistischer und kommunistischer Gesellschaften, feiert ›das Menschenrecht des Privateigentums‹ neue Triumphe, der ›egoistische Mensch‹ ist zum Regelfall geworden«, schreibt die Psychologin Ursula Nuber (* 1954). »Doch nun trennt nicht mehr nur der Besitz an Privateigentum den Menschen vom Menschen; von äußerer Herrschaft weitgehend befreit, klagt der moderne Mittelschicht-Mensch sein Recht auf ein ›gutes Leben‹ ein, auf ein Leben, in dem seinen Bedürfnissen erste Priorität eingeräumt wird – und die Bedürfnisse anderer zweitrangig werden. Was früher ein Privileg der oberen Schichten war – ein Wohlstand in Freiheit von äußeren Zwängen – ist nun für eine breite Masse erreichbar. Und das macht die besondere Qualität des modernen Egoismus aus: seine massenhafte Verbreitung (Hervorhebung im Original).«44 Allerdings sehe ich in dieser Vision vom guten Leben auch wiederum einen »äußeren Zwang« – denn die Macht der medialen Vorbilder und die Neidkonkurrenz gegenüber den Nächsten verführt wieder dazu, sein noch unentwickeltes Selbst mit Hab und Gut wie mit Krücken zu stützen. Wer sich selbst nicht mag, wie er oder sie ist, sucht nach Tarnkleidung und leider oft halb- oder illegalen Wegen, sich mehr anzueignen, als der Verdienst der eigenen Hände oder Gedanken finanzieren kann.
Liebeszauber
Man muss sich die Biografien und die Gesichter derjenigen genau ansehen, die sich im Gefolge der mittelalterlichen »weisen Frauen« und Männer als Gurus inszenieren, denn viele wechseln in völliger Selbstüberschätzung einfach von der Schülerseite des Schreibtisches auf die Lehrerseite. So erinnere ich mich an ein Seminar an einer Volkshochschule in einer mittelgroßen Stadt, das Thema habe ich vergessen, an dem ein ältlicher Landwirt teilnahm und auf meine Frage an die Besucherschaft, weswegen sie diese Veranstaltung besuchten, antwortete, er habe bereits einmal so ein ähnliches Seminar besucht und das habe ihm so gefallen, dass er jetzt entschlossen sei, eine »Schule des Lebens« zu eröffnen und selbst Seminare abzuhalten, weil er könne das ja alles – nämlich den Leuten sagen, was sie tun sollten – selbst auch. Ähnlich erlebte ich, dass eine Frau, die unbedingt bei mir mitarbeiten wollte, auf meine Aufforderung, sie wolle doch bitte zuerst ihre Qualifikation ausweisen, eine Liste von völlig unterschiedlichen Vorträgen und Ein-Tages-Seminaren vorlegte, die sie besucht hatte, darunter auch solche bei mir; ich lehnte mit dem Vergleich ab, dass jemand, der gelegentlich Profiköchen beim Kochen zugesehen habe, sich auch nicht als gelernte Köchin verdingen dürfe – außer sie hätte über lange Zeit im eigenen Unternehmen alle Hürden und Kontrollen der Gewerbebehörden und Restaurantkritiker gemeistert. Aber genau da zeigt sich wieder das Vermeiden von Nähe: Statt sich in einer »Lehrzeit« der Konkurrenz zu stellen, was sicherlich öfters Stress auslösen mag, wird im »Alleingang« versucht, sich einen »Schein« (im Doppelsinn des Wortes) als Nachweis von Kompetenz zu kaufen oder über den Umweg von Tauschgeschäften kostenlos zu organisieren.
Dahinter verbirgt sich die Fantasie, nur über solch eine »Absolution« anerkannt und vielleicht sogar geschätzt und geliebt zu werden. Manche sind einfach schlau und nützen alle Schlupflöcher aus – aber auch hinter diesem »unethischen« Verhalten liegen alte Verwundungen; meist fühlten sich diese Menschen gegenüber einer »besser