Fronten. Leonhard F. Seidl
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»Kommens doch bittschön später in die Polizeiinspektion und bringens den Reparaturschein. Außerdem brauchen wir noch eine Unterschrift fürs Protokoll.« Wieder ein Grinsen. Er nickt nur. Er will nicht, muss aber. Für Worte ist kein Platz in dieser Zwischenwelt. Ohne Angriff oder Verteidigung. Er muss sich wieder Platz schaffen. Sich einordnen. Seinen Platz schaffen. Seine Jacke benötigt er nicht, aber sein Kragen ist zu eng. Er holt Uho aus dem Keller. Geht in den Hof und lässt ihn fliegen. Ob er will oder nicht.
Seine Sonnenbrille hat er vergessen. Weswegen er fast ein Auto übersieht, das viel zu schnell von rechts kommt, tacka, tacka, tacka, als er auf die Straße tritt. Bumm, bumm, bumm, bumm. Hupt. Er springt zurück auf den Gehweg, wohin sie ihm nicht folgen. Dieses Mal haben sie es nicht geschafft, ihn zu beseitigen. Genauso wenig wie der rote Mercedes, den sie erst gestern gegen den gelben Renault ausgetauscht haben. »21, 22, 23.«
Sein Wagen springt nicht gleich an. Aber dann: Tack, tack, tack, rollt er durch das Tor. Der rote Pfeil auf seiner Seite. Und trotzdem Angriff. Bald.
Der 4. März 1988 war ein Freitag. Es war der 64. Tag des Schaltjahres 1988. Helmut Kohl war Bundeskanzler, Richard von Weizsäcker Bundespräsident, SV Werder Bremen wurde deutscher Meister und der Boxweltmeister Cassius Clay, besser bekannt als Muhammad Ali, war bereits an Parkinson erkrankt. Zwei Wochen später starben in der hauptsächlich von Kurden bewohnten Stadt Halabdscha fast 5000 Menschen durch einen Giftgasangriff der irakischen Luftwaffe. O.K. stand mit »Okay« auf Platz zwei der Top Ten, und um 14:20 Uhr begann der 5. Teil der Serie »Das Erbe der Väter« auf ARD.
4. März 1988
Nordostirak, Kurdistan
Roja Özen
Vater wachte auf dem Schemel hinter der Holztür. In der Stube des Hauses, das er mit seinen eigenen Händen erbaut hatte, am Rande der Stadt. Die schwarz-weiß karierte Kufiya um das volle schwarze Haar gebunden. Die Finger der linken Hand sprangen über die Perlen der Misbaha, die andere hielt das Gewehr. Noch vor wenigen Stunden, vor Einbruch der Dunkelheit, waren Schüsse gefallen, hatten sich seine Genossen Kämpfe mit den angreifenden irakischen Soldaten geliefert.
Er fuhr sich durch den buschigen Oberlippenbart. Sah hinüber zu Mutter, die auf der Matratze aus Stroh ruhte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, sie atmete gepresst. Um etwas zu tun, erhob sich Vater, ohne das Gewehr aus der Hand zu legen. Er ließ die Gebetskette in die Tasche seines khakifarbenen Overalls gleiten und ging zum Holzofen am anderen Ende des niedrigen Raumes, am selbstgezimmerten Esstisch vorbei. Die Tür des Ofens quietschte, als er sie öffnete. Wasser brodelte auf der Kochplatte, hüllte Vaters Kopf in seltsames Schweigen. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Er schob einen Holzscheit hinein, den die Flammen umschlangen. Mutter bog stöhnend den Rücken durch, drückte die lederne Haut von Großmutters knochiger Hand, die neben dem Bett saß. Da knallte es. Vater legte das Gewehr an und zielte auf die Tür. Die Flammen malten seinen zitternden Schatten auf die Wand aus Lehm und Stein.
4. März 1988
Auffing (Oberbayern)
Markus Keilhofer
Mutter hielt die Hände vor die Augen. Ein Schatten fiel auf ihr Gesicht, Gänsehaut auf den Armen. Sie griff sich an die Brust, schnappte nach Luft, würgte. Noch bevor ihr die Hebamme die Nierenschale reichen konnte, quoll Schaum aus ihrem Mund, erbrach sie sich schwallartig. Zwischen Mutters Beinen der winzige Kopf mit den verklebten Haaren, eingeklemmt zwischen den Schamlippen. Mutters Lippen färbten sich bläulich. Sie keuchte, die Finger krallten sich in die Matratze, der Puls raste. Die Schwester rannte, kehrte mit dem Arzt zurück. Stück für Stück presste die Wehe den Körper des Säuglings hervor, kämpfte sich das Kind in die Welt: Hals, Oberkörper, Unterleib. Schrie blutüberströmt in den Armen der Hebamme. Mutter verdrehte die Augen. »Schwester, Oxytocin!« Die sehnige Nabelschnur durchtrennt von der Schere. Dickflüssige, gelbliche Milch floss aus ihren Brustwarzen. Die Herztöne des Neugeborenen unregelmäßig. Die Herztöne der Mutter verstummten.
Freitag, 4. März 2016
Auffing (Oberbayern)
Roja Özen
Sie verlässt den Laden, geht in Richtung des Stadttors über den Fluss. Der schmutzige Schnee sammelt sich am Straßenrand, überdeckt den Mittelstreifen. Wenn ein Auto vorbeifährt, weicht Roja einen Schritt zur Seite, um nicht nassgespritzt zu werden.
Im Stadttor nähert sich erneut ein Auto von hinten. Die Reifen zerquetschen lautstark den Schnee. Roja drückt sich an die Wand, so gut es ihr die vollgepackte Plastiktüte in der einen Hand und der Leinenbeutel in der anderen ermöglichen. Ein dritter Wagen folgt. Sie geht noch einen Schritt zur Seite, der Motor heult auf, sie bleibt stehen. Sie sieht den Wagen aus dem Augenwinkel näherkommen, lässt ihre Taschen fallen. Glas zerbricht, Dreck spritzt auf die weiße Arzthose. Am liebsten würde sie sich Augen und Ohren zuhalten. Der Motor heult auf. Und der Wagen braust davon.
Sie bückt sich, versucht, die Scherben herauszuziehen, die die Plastiktüte zerschnitten haben, und denkt: Gerade heute.
»Kann ich dir helfen?«, fragt da eine junge Stimme über ihr.
Sie schiebt ihr Kopftuch zurecht.
»Nein, danke«, antwortet sie, ohne aufzusehen.
»Kann ich dir helfen?«, fragt die Stimme erneut. Roja richtet sich auf. Vor ihr steht ein kleines Mädchen. An ihrem Nasenloch bläht sich eine Rotzblase auf. Ihre blaue Mütze, auf der ein orangefarbener Smiley seine Zähne fletscht, ist nach oben gerutscht. Darunter kämpfen sich blonde Locken hervor. Roja überlegt, ob sie das Mädchen aus Esthers Kindergarten kennt. Sie sieht sich um. Mutter oder Vater sind nirgends zu sehen.
»Lassen Sie das Mädchen in Ruhe!« Das Mädchen zuckt wie Roja zusammen. Ein alter Mann hat sich vor ihr aufgebaut.
Roja richtet sich auf und hastet verstört davon. Sie klettert in den Wagen, schlägt die Tür zu, sieht aus dem Fenster. Da ist er wieder. Sie dreht den Schlüssel herum und fährt los. Blech kracht, ihr Kopf wird nach vorne geschleudert.
»Grüß Gott, ich möchte einen Unfall melden, weil ich mir unsicher bin«, sagt Roja durch die Glasscheibe mit den blassweißen Löchern in der Mitte zu dem Polizisten.
»Gehens doch bittschön in das Zimmer Nr. 5, dritte Tür links zum Kollegen. Ich geb Bescheid«, sagt der Polizist.
Roja geht weiter, klopft, öffnet die Tür.
»Grüß Gott«, sagt der Polizist, steht auf und gibt ihr die Hand. »Hauptkommissar Josef Stehr.«
»Roja Özen.«
»Bittschön, nehmens Platz.«
Der Polizist lässt sich auf den Stuhl vor dem Computer fallen. Roja setzt sich auf den Stuhl gegenüber.
»Ihren Namen.«
»Roja …«
Der Schuss unterbricht Rojas Worte. Stoppt die Finger des Polizisten.
4. März 2016
Markus Keilhofer
Am Parkplatz:
Sonst stolzierst umeinand wie die erste Frau vom Sultan. Streckst deine kleine Nasen