Fronten. Leonhard F. Seidl

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Fronten - Leonhard F. Seidl

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jetzt dachte der siebenjährige Ayyub wieder an Ratko, weil kleine Feuer auf dem Gelände der alten Fabrik loderten und Ratkos Onkel sie mit einem Gewehr aus dem Haus vertrieben hatte. Sie hatten Kleider, Brot, Decken gepackt, und sich den anderen Familien angeschlossen. Nur Großvater war zurückgeblieben. Er hatte Ayyub über den Kopf gestreichelt und zu Vater gesagt: Keine Sorge, wir waren doch so lange Nachbarn.

      Sie reihten sich ein in den Zug aus Menschen, neben einer mageren Kuh und den Frauen in ihren Dimijes, den Pluderhosen, mit ihren schreienden Kindern auf dem Arm. Ein fremder Großvater fluchte in seinem dreckverkrusteten weißen Hemd auf die Soldaten aus Holland. Der Schweiß rann unter seiner blauen Kappe über sein Gesicht. Sogar die Luft zitterte in der Hitze.

      Jetzt stand der Mond über der verfallenen Autobatteriefabrik. Ayyub schwitzte noch immer und hielt sich die Nase zu, weil alle in die Ecken machten. Trotzdem knurrte sein Magen, und sein Mund war ausgetrocknet. Weshalb er auch hoffnungsvoll zu Mutter hinübersah, als sie das Küchenmesser auspackte. Aber anstatt Brot zu schneiden, fasste sie Camila an den Haaren. Und schnitt Haarsträhne für Haarsträhne ab. Die Haare, die sie täglich gekämmt, gepflegt, die sie so geliebt hatte. Camila zuckte bei jedem Schnitt zusammen, begann zu weinen. Warum schneidest du Camila die Haare ab, obwohl sie weint?, wollte Ayyub Mutter fragen, fragte aber lieber nicht, nicht, dass sie noch wütender wurde. Anstatt Camila zu trösten, schlich Mutter zum Feuer. Sie bückte sich, griff nach der erkalteten Kohle, verbranntem Holz, das nicht mehr glühte. Mit der Kohle rieb sie Camilas Gesicht ein. Ließ sich auch nicht von den Tränen abhalten, die noch immer über das rußgeschwärzte Gesicht rollten und graue Streifen hinterließen. Normalerweise nahm Mutter Camila in den Arm, wenn sie weinte. Heute wanderten ihre Augen durch die mit Menschen vollgestopfte Halle, in der zwei junge Frauen beteten. Ayyub wollte Mutter gerade fragen, warum die serbischen Soldaten ihnen die Beine auseinanderrissen und sich auf sie legten. Aber da stand sie auf, zog Camila in eine dunkle Ecke und wechselte ihre Jeans gegen eine Pluderhose. Ayyub wollte Vater fragen, warum der fremde Großvater mit einem Stein auf seinen eigenen Kopf einschlug, bis ihm das Blut über das Gesicht lief. Doch da zog ihn Vater mit sich. Mit der anderen Hand hielt sich Ayyub die Ohren zu, weil es ständig krachte, Männer, Frauen und Kinder wimmerten und weinten. Ayyub spürte, wie der Boden bebte, wich einem Jungen aus, dessen schwarze Füße in viel zu großen Schuhen steckten. Vater befahl ihm, er solle sich von Mutter und Camila verabschieden. Vater gab Mutter die Kleider seiner Schwester, Mutter gab ihm ein Bündel Dinar und Ayyubs Ersatzhose. Ayyub verstand nicht, wollte nicht, fing an zu weinen. Er küsste Camila auf die rußige Wange, die bitter schmeckte. Umarmte Mutter, die streifte ihm die viel zu lange grüne Jacke der Schwester über. Zog ein Halstuch aus ihrer Kittelschürze und band es Ayyub hastig um den Kopf. »Nimm es bloß nicht ab«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Dann riss ihn Vater von Mutter fort. Von den Berghängen tönte Hundegebell zu ihnen herunter.

      12. Juli 1995

      Auffing (Oberbayern)

      Roja Özen

      »Warum Roja?«, hat sie ihren Baba gestern Abend vor dem Zubettgehen gefragt. Die Nacht hatte es noch nicht geschafft, den heißen Sommertag zu vertreiben.

      »Weil du mit dem Sonnenaufgang geboren wurdest«, hat Vater geantwortet und ihr über die langen schwarzen Haare gestrichen. »Du hast uns die Sonne gebracht«, lachte er und küsste sie auf die Stirn. Sein schwarzer Schnurrbart kitzelte an den Augenlidern, sie atmete erleichtert aus. Hatte es doch geholfen, dass sie Baba gestern erlaubt hatten, wieder mit dem Rauchen anzufangen. Der Onkel aus dem Fernseher hatte ihnen dabei zugesehen. Sein Bart war buschiger als der von Vater, und er hatte schon mehr graue Haare. Mindestens zweimal in der Woche saßen Vater und Mutter vor dem Fernseher, um seinen Worten zu lauschen. Normalerweise durften Roja und ihr großer Bruder Serhat dann nicht stören. »Roja«, sagte Vater. »Du kennst doch den Mann, der einmal zum Teetrinken bei uns gewesen ist und dir Märchen erzählt hat.«

      Roja nickte. Sie mochte ihn, er lachte häufiger als Vater.

      »Er wird ab sofort bei uns wohnen.«

      Sie dachte an die Geschichte vom Ferkel im Hundestall, die ihr der Onkel erzählt hatte, und bekam eine Gänsehaut.

      Jetzt schlenderte Roja neben den eiligen Autos den Berg hinab, ihren Schulranzen auf dem Rücken. Die Sonne kämpfte sich durch die zotteligen Wolken, kündete von einem warmen Sommertag. Ein Spatz saß auf einem Jägerzaun. Roja blieb stehen, holte ihr Pausenbrot aus dem Schulranzen und bröselte Krümel vom Fladenbrot.

      »Roja!«, schrie ihre Mutter, aus dem Fenster der Wohnung gelehnt. »Beeil dich bitte, sonst kommst du wieder zu spät zur Schule.«

      Roja stopfte das Pausenbrot in ihren Schulranzen, hastete den Berg hinunter, überquerte am gefährlichen Eck die Straße. Dort, wo die Autos erst kurz bevor sie um die Kurve rasten zu sehen waren.

      An der Bäckerei Steigele lockte der Geruch von Frischgebackenem. Roja blieb vor dem Schaufenster mit den vollbeladenen Blechen stehen, ihr Magen knurrte. Da läutete die Kirchenuhr achtmal. Sie schreckte zusammen, griff nach den Trägern ihres verschlissenen Schulranzens und rannte los. Erst die Gasse an einem weiteren Jägerzaun entlang, die lange Treppe hinab. Links der steile Berg, den sie im Winter hinunterrodelten, an den Reihenhäusern vorbeischossen. Gegenüber die Schule, der Betonklotz, in den sie sich jeden Morgen quälte. Schwungvoll riss sie die große Tür auf, tauchte ein in die eigentümliche Welt aus Brezen, Sunkist und Negerkusssemmeln. Ihr Klassenzimmer befand sich am Ende des Gangs, der trotz des Sonnenscheins im Dunkeln lag. Zögerlich klopfte sie und trat ein. Die grauhaarig-gelockte Lehrerin teilte gerade Blätter aus. »Setz dich hin. Wir schreiben eine Probe.«

      Roja wühlte im Schulranzen, griff in etwas Klebriges. »Kar«, entfuhr es ihr, was niemand gehört hatte und niemand verstanden hätte. Sie Esel hatte vergessen, das Brot wieder in das Papier einzuwickeln, bevor sie es in den Schulranzen gepackt hatte. Langsam zog sie ihre verpappten Hände heraus, sah sich um, sah, wie sich Traudel erhob und zum Abfalleimer wackelte. Sie widerstand dem Impuls, die klebrigen Hände an ihrer abgewetzten Jeans abzuwischen, die sie von Serhat vererbt bekommen hatte. Im Gegensatz zu Traudels Jeans war ihre Hose bleich, wie Vater, wenn er nicht aus dem Bett kam. Sie wischte ihre Hand mit einem Stofftaschentuch ab. Dann zog sie ihr Federmäppchen aus dem Rucksack, es rutschte ihr aus den Händen und fiel zu Boden. Die Lehrerin warf ihr einen strengen Blick zu.

      Roja beugte sich über die Matheaufgaben. Darauf war ein Würfel mit schwarzen Punkten abgebildet. Sie sollte die Punkte aufteilen, in zwei andere Würfel. Sie stellte sich vor, wie jeder aus ihrer Familie einen Punkt darstellte. Der Gedanke an den Märchenonkel ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Gerade schob Traudel den Rucksack, der zwischen ihr und Vroni stand, beiseite und schaute auf Vronis Probe.

      Sie zögerte, ihre Hand fuhr nach oben. Flüsternd rief sie die Lehrerin auf.

      »Traudel hat gespickt.«

      Ein Raunen ging durch die Klasse.

      Auf dem Nachhauseweg holten Traudel und Vroni sie ein.

      »Hast dich heut noch rasieren müssen? Und bist deswegen zu spät gekommen?«, frotzelte Traudel, die ein Jahr älter war als die anderen und zwei größere Schwestern hatte.

      Vroni kicherte. Roja spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.

      Roja stieß sie zur Seite und rannte davon. Auf halber Strecke musste sie anhalten. Keuchend stützte sie sich auf ihre Oberschenkel. Dann ging sie langsam nach Hause.

      Mutter kam von der Arbeit, drückte Roja zehn Mark, einen Einkaufszettel und den Korb in die Hand. Vor dem Kramerladen trottete ihr Traudel entgegen.

      »Traudel«, sagte Roja.

      »Was

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