Fronten. Leonhard F. Seidl

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Fronten - Leonhard F. Seidl

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habe.«

      Traudel schaute in den Korb und entdeckte den Zehnmarkschein. »Gibst ein Eis aus?«

      »Okay«, sagte Roja und Traudel folgte ihr in den Kramerladen.

      Am Stadtbrunnen knackten sie die Schokolade des Magnum-Eises. Eine Biene schwirrte um ihre Köpfe. Das Wasser plätscherte hinter ihnen in das vermooste Becken. Wolken schoben sich vor die Sonne.

      »Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«, fragte Roja.

      »Sag.«

      »Nur, wenn du’s nicht weiterverrätst.«

      Traudel schüttelte den Kopf. Biss in die Schokolade. Ein Stück blieb an ihrer Lippe kleben.

      »Ein Onkel wohnt jetzt bei uns.«

      Ein Eichhörnchen flitzte am Stamm der Eiche gegenüber hinunter, dass es aussah, als würde es fallen.

      Am Abend lag Roja in ihrem Bett, das Asthmaspray griffbereit neben ihrem Kopfkissen. Die Äste der Bäume kratzten an den geöffneten Fenstern. Ihre Schatten glichen dürren Armen, die versuchten, nach ihr zu greifen. Sie faltete ihre Hände. »Bitte lass mich heute durchschlafen.«

      Aus dem Wohnzimmer drang Licht durch die mit Kinderbildern abgeklebte Glastür. Eines davon hatte Roja noch im Kindergarten gemalt. Es zeigte einen blauen Drachen, der Feuer spie. Darunter ein Bild ihres Bruders Serhat, auf dem ein Pirat über einen Berg kletterte. Berge wie in ihrer Heimat. Das Licht bewegte sich, wechselte die Farben. Ausnahmsweise liefen im Fernsehen die deutschen Nachrichten, was allemal besser war als das Streiten ihrer Eltern, das sie mit Tränen in den Schlaf begleitete. Wenn Mutter vom Elternabend zurückkam und nichts verstanden hatte. Oft war das Kopfkissen, das sich Roja auf Gesicht und Ohren gedrückt hatte, am Morgen feucht. Dann wünschte sie sich, ihr Bruder würde lauter schnarchen, um die Stimmen nicht mehr hören zu müssen. Serhat kümmerte das Geschrei seiner Eltern wenig. Wenn er mit den anderen Jungs gebolzt hatte, mit grünen Knien und aufgeschlagenen Beinen nach Hause kam, schickte ihn die Erschöpfung sofort nach dem Abendessen in den Schlaf. Auch Mutter kümmerte ihn wenig, die versuchte, mit Waschbrett und Seife seine Hose zu retten. Die Flecken aus dem Stoff schrubbte und Löcher mit Stoff aus zerschnittenen, abgetragenen Anziehsachen übernähte. Ihr Vater erklärte, dass Jungs Fußball spielen müssten, um stark zu werden. Mutter erzählte oft von den starken Frauen in ihrer Heimat, die für die Freiheit kämpften. Wenn Roja nachfragte, Namen oder Orte wissen wollte, zog sich Mutter das bunte Kopftuch mit den Blumen fester über die langen dunkelbraunen Haare. Sprach über die nächste Mahlzeit oder flocht Roja ihre Zöpfe neu.

      »Wenn du älter bist, erzähle ich es dir«, sagte sie ausweichend. Insgeheim wünschte sich Roja, dass ihr Vater davon erzählen würde.

      Roja wollte Ärztin werden, die Geister aus der Vergangenheit und Krankheiten wie Asthma vertreiben.

      Heute war der Onkel da und die Eltern stritten nicht. Vor dem Zubettgehen hatte er ihr die Geschichte vom Newrozfest erzählt. Jetzt saß er mit Vater und Mutter im Wohnzimmer und sie tranken Ça. Da läutete es.

      Freitag, 4. März 2016

      Auffing (Oberbayern)

      Ayyub Zlatar

      Der Motor seines alten Fords röhrt seltsam blechern, als er auf dem Parkplatz der Polizeiwache den Schlüssel zieht. Er steigt aus, dreht sich nicht um, schließt nicht ab. Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm. Dafür schließt er seine Jacke. Darunter sein Rollkragenpullover. Geht direkt auf die Eingangstür der Wache zu. Der Geruch von verbranntem Holz. Die Narbe. Das Nach-vorne-Sehen strengt an. Der Kiefer spannt. »21, 22.« Die Treppe hinauf. Stufe für Stufe. Das blaue Schild mit weißer Schrift: Polizei. Verräter. Goldene Strahlen. Gefüllt mit blau-weißen Rauten. Die kalte Türklinke. Wie der Griff seines Colts. Die Aufrechten. Die Patronen. Metall, stark, auf ewig gegossen in Metall. Bumm … Bumm … Bumm … »23, 24.« Die Tür schwankt, er tritt trotzdem ein. Ein Hund bellt. Hinein, bevor sie das Tier auf ihn hetzen. Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm. »25, 26.« Hinter der Glasscheibe ein Wächter in Uniform, funkt. Rauschen dringt zu Ayyub durch die durchsichtige Wand. Jetzt, das Zeichen. Finger an den Kopf. »Grüß Gott.« Mein Gott. Euer Gott. Ruhig. Lächeln. Die Eintrittskarte. Der Wächter grüßt freundlich zurück. Weiß, dass er kommt. Lässt ihn passieren. Sie wollten es so.

      Zimmer Nr. 7, rechts, am Ende des Ganges, haben sie gesagt. »27, 28.« Jetzt dreht er sich um. Weil seine Zukunft vor ihm liegt. Er aus dem Sichtfeld des Wächters ist. Knöpft sein Jackett auf. Die nächste Tür. Der Griff warm. Keine Sicherheit. Schwäche. »29, 30.« Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm. Die Kirchturmglocken. Die Kirche in Bosnien. Lauter als der Ruf des Muezzins. »Allahu akbar.« Öffnet die Tür. Die zwei Lakaien. Sitzen an ihren Schreibtischen. Vornübergebeugt. Über seinen Waffen, seiner Munition! Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm. »31, 32.« Das Kreuz an der Wand. Blut, Leiden, Christen, Serben. Vaters Kopf. Die Kalaschnikow. Die Stiefel des Skorpions. Das Maschinengewehr fährt hinab. Er wird vom Himmel fahren und richten. Blut spritzt. Das Kreuz an der Wand. Erhellt von der Sonne. Blitzt. Blut an seinen Händen. Blut an seinen Füßen. Blut auf seiner Stirn. Unter der Dornenkrone. Der Schädel platzt auf. Im Namen des Vaters. Der Geistliche mit Kreuz. Inschallah. Küsst Blut. Der böse Blick des Skorpions. Fährt seinen Stachel aus. Roter Pfeil.

      »Gebt mir meine Waffen zurück!«

      Ayyub greift mit der Hand nach dem Colt auf dem Tisch.

      Der 21. September 2001 war ein Freitag. Es war der 264. Tag des Jahres. Gerhard Schröder war Bundeskanzler, Johannes Rau Bundespräsident, der FC Bayern München deutscher Meister. Die afghanischen Taliban weigerten sich, bin Laden an die USA auszuliefern, und das Oktoberfest wurde tags darauf erstmals seit 1950 ohne das traditionelle »Ozapft is« eröffnet. Die No Angels standen mit »There Must Be An Angel« auf Platz eins der Top Ten und der Wochenendkrimi »Im Fadenkreuz« begann tags darauf um 20:15 Uhr auf ZDF.

      21. September 2001

      Auffing (Oberbayern)

      Roja Özen

      Traudels roter Fingernagel bohrte sich in die Luft. Roja stand an der Tafel und zeigte auf sie, ohne ihren Namen zu nennen.

      »Redest du daheim islamisch?«

      Roja schaute zu ihrem Lehrer. Der nickte ihr aufmunternd zu. Noch bevor Roja antworten konnte, platzte Vroni dazwischen: »Geht deine Mama eigentlich mit ihrem Kopftuch unter die Dusche?«

      Die Klasse johlte. Roja hätte gern zu ihrem Lehrer geschaut, starrte auf Vroni, die sich durch ihre gebleichten Locken fuhr, der Ärmel des ausgeleierten Wollpullis bebte vor Lachen. Es gongte. Roja drehte sich um, ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen, ihr Blick fiel auf den Jesus am Kreuz, der über ihr an der Wand hing. Gestern hatte ihre Religionslehrerin erzählt, dass er durstig am Kreuz gehangen habe. Worauf ihm ein römischer Soldat einen essiggetränkten Schwamm gab, auf einen Ysopzweig gespießt, von dem Jesus trank.

      Schritte stürmten hinter ihr aus dem Klassenzimmer. Ein kühler Windzug strich über ihren Hals.

      »Roja … Roja!« Ihr Lehrer stand neben ihr. Sie flüsterte ein »Ja«, versuchte, sich vom Bild des Jesus am Kreuz zu lösen. Sie hörte das Rascheln von Papier und sah ihrem Lehrer in die Augen.

      »Fabio ist immer noch krank. Wärst du so lieb und würdest ihm bitte die Hausaufgaben bringen?«

      Eine Hitzewelle schoss durch ihren Körper, in ihren Kopf, weckte sie.

      »Natürlich.«

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