Land oder Leben. Claudia Heuermann

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Land oder Leben - Claudia Heuermann

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die Zicklein wurden größer, die Brandwunden verheilten, und wir alle liebten es, die Tiere auf der satten grünen Weide herumspringen zu sehen. Wie kleine Gummibälle hüpften sie durchs hohe Gras, munter und verspielt, und Paul und Phillip tobten zusammen mit ihnen über die Wiese, liefen um die Wette und konnten nicht genug von den quirligen Wirbelwinden bekommen. Die Idylle war einmal mehr perfekt, so hatte ich es mir vorgestellt!

      7. KAPITEL

      EIN KRABBELNDER ALBTRAUM

      »Was ist denn das für ein schwarzer Punkt da?«, fragte Phillip eines Abends und zeigte auf sein Bein.

      »Dreck«, mutmaßte Paul.

      »Ein Leberfleck? Nein, da war vorher garantiert kein Leberfleck«, war ich mir sicher. Nach genauerer Inspektion bemerkte ich einen weiteren Punkt auf Phillips Hals. Und dann noch einen hinterm Ohr.

      »Ich glaube, der Fleck hat Beine«, sagte mein schwarz gepunkteter Sohn.

      In allen Träumereien, in der ganzen Planung, in all den wunderschönen Vorstellungen waren diese kleinen schwarzen Punkte nie vorgekommen. Aber die Realität holte uns schnell ein, genau genommen schon in diesem ersten Frühjahr. Sobald die Schneedecke verschwunden war und Blüten, Blätter und Gräser sprießten, warteten sie auf uns. In großen Mengen. An den seltsamsten Orten. Geduldig und ausdauernd: die Zecken.

      Ixodes scapularis, auch deer tick genannt, ist dem europäischen Gemeinen Holzbock sehr ähnlich. Das kleine, mit der Milbe verwandte Spinnentier ist Überträger gleich mehrerer Krankheiten, darunter Babesiose, Anaplasmose und mit Abstand am häufigsten: die Lyme-Borreliose, benannt nach dem Städtchen Lyme in Connecticut, wo die Krankheit in den siebziger Jahren zum ersten Mal auffiel. Aktuell war diese bakterielle Infektion allerdings kaum irgendwo so verbreitet wie im Hudson Valley. Die Krankheit hatte hier epidemische Ausmaße angenommen, und es gab keine Impfung. Plötzlich hörte man auch immer häufiger Geschichten von Nachbarn oder Bekannten, die an der Borreliose erkrankt waren. Manche hatten nur geschwollene Knie und Fieber, andere litten unter Kopfschmerzen und Erschöpfung. Manch einer fand einen roten Kreis auf seiner Haut, die sogenannte Wanderröte, oder gar die Zecke selbst, und mit einem schnellen Gang zum Arzt und sofortiger Antibiotika-Einnahme konnte Schlimmeres verhindert werden.

      Bei einigen jedoch wurde die Infektion zu spät – oder gar nicht – erkannt, und sie hatten mit teils schwersten chronischen Symptomen zu kämpfen. Arthritis. Herzbeschwerden. Völlige Erschöpfung. Auch Gesichtslähmungen und andere neurologische Probleme waren keine Seltenheit. Zwei Bekannte im näheren Umfeld mussten sogar ihre Arbeit aufgeben, wurden zu Invaliden. Zu allem Übel kam dann noch hinzu, dass kaum eine Versicherung die langwierige Behandlung einer chronischen Borreliose bezahlte. So hörten wir auch von einem Kind im Nachbardorf, das schon länger krank war. Die Eltern mussten für jeden Arztbesuch zweitausend Dollar hinblättern, dafür Kredite aufnehmen, ihr Auto verkaufen und auf der Crowdfunding-Plattform GoFundMe betteln gehen. Die Familie stand am Rande des Ruins – wegen eines kleinen schwarzen Punktes!

      Bei mir setzte dementsprechend in diesem Frühling eine panische Pünktchen-Paranoia ein. Und zwar an jenem Abend, als ich an Phillip diese drei Zecken fand. Nymphen, noch nicht ausgewachsene Tiere, so klein, so winzig, dass sie mit bloßem Auge kaum zu erkennen waren. Wie Sandkörner. Noch am selben Abend fand ich einen weiteren Punkt in Pauls Gehörgang.

      »Ist das ’ne Kruste oder ’ne Zecke?«

      »Weiß ich doch nicht.«

      »Hast du dich im Ohr gekratzt?«

      »Nein.«

      »Wie soll ich das Ding denn da jetzt rauskriegen? Mist, ich glaub, jetzt ist der Kopf ab, und zerquetscht hab ich sie wahrscheinlich auch. Was, nein – da krabbelt sie! Huch. Oha! Ich halt’s nicht aus«, schnappatmete ich schwitzend.

      Wir hatten schon seit unserem Einzug im vergangenen Jahr regelmäßige ›Zeckenchecks‹ durchgeführt, nach dem Spielen im Wald immer mal kurz nachgeschaut – das gehörte zum Landleben dazu, wussten wir, aber es war eher eine Formsache gewesen. Wir hatten bisher nie etwas gefunden. Doch schon ohne die zahlreichen Krankheiten jagten mir diese Tiere Angst und Schrecken ein. Die Vorstellung, dass die kleinen Blutsauger unbemerkt auf dem Körper herumkrabbelten, sich dann mit ihrem Mundstück in die Haut eingruben, um dort tagelang zu verharren und immer dicker (und ekliger) zu werden, hatte mir schon als Kind Albträume bereitet. Doch jetzt bekam dieser Schrecken eine neue Dimension. Wie konnte ich nur meine Kinder schützen und verhindern, dass auch sie krank wurden?

      Gründlichere und häufigere Zeckenchecks, das war die erste Maßnahme. Denn nur wenn die Zecken über einen längeren Zeitraum das Blut saugen, so hatte unser Arzt gesagt, kann die krankmachende Bakterie übertragen werden. Borrelia burgdorferi lauert nämlich in den Eingeweiden der Zecke, und erst wenn diese dort unser Blut eindickt und überschüssige Flüssigkeit aus ihren Därmen mit ihrem Speichel zurück in die Wunde drückt, kann der Keim in unseren Körper gelangen. Das dauert eine ganze Weile, und wenn man also mindestens alle zwölf Stunden kontrolliert und wirklich nichts übersieht, dann ist das ein recht guter Schutz, zumindest was die Borreliose betrifft.

      Und so geschah es. Morgens eine halbe Stunde pro Person, abends noch mal und manchmal auch zwischendurch und dann noch mal, nur zur Sicherheit. Alles, absolut jede Hautfalte, jede Körperstelle, wurde millimetergenau und penibelst abgesucht, jeder kleinste Punkt ausgiebig und von allen Seiten mit der Lupe betrachtet (um die Zecken besser sehen zu können, wurde ich zur Brillenträgerin), und immer wieder war es ein Schreck, wenn sich herausstellte, dass der Punkt Beine hatte. Es wurde zum blanken Horrorritual.

      Daneben wurde nun auch das Streunen am Waldrand verboten (der Wald war ja wegen der Bären ohnehin schon gestrichen), ums Haus herum durfte nur noch in der Mitte des kurz gemähten Rasens gespielt werden, und kaum ein Satz kam so häufig aus meinem Mund wie dieser: »Achtung, Kinder, nicht in die Büsche gehen!«

      Ich versuchte es mit Insektenspray, Diethyltoluamid – oder DEET –, welches laut ärztlichem Rat das einzig wirksame Mittel gegen die Blutsauger war. Diese chemische Keule, entwickelt von der US-Armee, konnte allerdings bei exzessiver Anwendung zu Nerven- und Hirnschäden führen und widersprach meinen Prinzipien von einem naturbelassenen Leben zutiefst. Wollte ich damit wirklich meine Kinder einschmieren? Was hatte da nun Vorrang, mögliche Nervenschäden durch Zeckenmittel oder mögliche Nervenschäden durch Zeckenstiche?

      Ich probierte das Mittel aus, zu groß war mein Grauen vor den kleinen Krabblern, doch schnell stellte sich heraus, dass DEET sowieso nicht den gewünschten Erfolg erzielte. Die Zecken kamen trotzdem, über die Hosen, Hemdsärmel und Haare. Sie warteten auch nicht nur in den Büschen und im hohen Gras, nein, sie saßen auch am Haus, im Türrahmen und auf der Türklinke, verharrten dort mit hochgestreckten Vorderbeinen, lauerten darauf, dass jemand sie berührte und abstreifte. Sie saßen auf der Klinke des Gartentors, manchmal vier oder fünf hintereinandergereiht, an der Scheunentür und sogar auf den Griffen von Schaufeln und Gartengeräten. Als wüssten sie, dass dort in Kürze jemand hinfassen würde. Einige fanden sogar den Weg ins Haus, aufs Sofa, in die Badewanne. Wir waren belagert!

      Die Kinder durften nun fast gar nichts mehr anfassen, und wenn sie rauswollten, mussten sie auch an heißen Tagen lange Ärmel, feste Schuhe, Hüte und in Strümpfe gesteckte Hosen anziehen. Bälle durften nur noch mit Spezialwerkzeugen aus den Büschen geholt und Fahrräder nur noch mit Handschuhen gefahren werden, und ich selbst ging nie mehr ohne hochgeschlossene Gummistiefel aus dem Haus und untersuchte meine Hände, Arme und Hosenbeine alle paar Minuten, was mich aussehen ließ wie eine Idiotin.

      Jene Zecken, die sich dennoch unbemerkt anhängen und festbeißen konnten, wurden sofort

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