Land oder Leben. Claudia Heuermann
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Plötzlich hatte ich unglaubliche Angst davor, dass er uns verklagen würde. Vorsichtig drückte ich meine Zweifel aus und vermutete, dass er vielleicht eher vor Schreck hingefallen oder gestolpert war und mit seinem Gewicht die Decke des darunterliegenden Raumes durchschlagen hatte. »Das ganze Zimmer ist jetzt kaputt«, fügte ich eingeschüchtert hinzu, doch das schien den empörten Hank nicht zu interessieren.
Am Ende verklagte niemand jemanden, und Hank reparierte den Abzug, ohne ein weiteres Wort über die Flughörnchen zu verlieren. Tom und ich schliefen vorerst im Wohnzimmer, und das Loch in der Decke wurde eine Woche später von Chuck (dem langhaarigen Dachdecker) repariert, der plötzlich und ohne Erklärung wieder aufgetaucht war und, um seine Ehre zu retten, auf ein Honorar verzichtete.
6. KAPITEL
WILDER WINTER
Als der erste Schnee fiel, verwandelte sich unsere graubraune Welt in eine blendend weiße. Nichts darin war mehr düster oder trübe, alles strahlte jetzt gleißend und hell. Die gefallenen Blätter und verwelkten Pflanzen waren verschwunden, verborgen unter eisigen Decken, und lediglich einige Spitzen ragten aus der weißen Pracht hervor. Noch nie hatte ich die Verwandlung so bewusst erlebt. Plötzlich sah nichts mehr aus wie vorher. Die weiten Hügel, die Wälder, die unberührte Landschaft – alles war in Weiß gehüllt, ein Weiß, das niemals grau oder matschig wurde.
Wir tobten mit den Kindern durch diese verwunschene Welt, lieferten uns wilde Schneeballschlachten, bauten Schneemänner und fühlten uns, als würden wir unseren ersten echten Winter erleben. Fröhlich, aufgekratzt und voller Bewunderung. Wir wurden es nicht müde, immer wieder auf tellerartigen Schneeschuhen die tiefen verzauberten Wälder und Berge zu durchstreifen oder Schlittschuh auf unberührten Waldseen zu laufen. Oft zogen wir die Kinder auf hölzernen Schlitten hinter uns her, während sie, in Decken gehüllt, mit großen Augen um sich guckten. Wir begegneten dabei niemandem, nur einige Hirsche kreuzten manchmal unseren Pfad, schauten uns neugierig an und zogen dann ihres Weges. Ab und zu hörten wir in der Ferne den Ruf eines Kojoten. Die Wildnis rief, gar keine Frage.
Wenn wir von unseren Streifzügen zurückkehrten, setzten wir uns gemeinsam vor den warmen Ofen, tranken heiße Schokolade und wärmten uns wohlig die Füße, während ich den Kindern von Buck, dem Hund, und seinen Abenteuern erzählte.
Schon bevor der Schnee kam, hatten wir Unmengen von Holz gehackt. Doch die riesigen Stapel aufgeschichteter Scheite, die wir ums Haus herum aufgetürmt hatten, verbrauchten sich in diesen eisig-verschneiten Tagen schnell. Es war noch nicht mal Weihnachten, da mussten wir für Nachschub sorgen, wenn wir es weiterhin warm haben wollten. Das erste Holz stammte von drei umgestürzten Bäumen, die wir in der Nähe des Hauses gefunden, zersägt und zerhackt hatten. Nun mussten wir tiefer in den Wald gehen, um weitere Stämme zu finden, und zwar solche, die schon länger tot waren, denn das feuchte Grünholz eines frisch gefällten Baumes verbrennt nicht sauber, hatte Hank uns gelehrt. Zu viele Schadstoffe werden im Feuer freigesetzt, und es besteht die unterschätzte Gefahr eines Kaminbrands, wenn sich der entstehende Ruß im Schornstein festsetzt. Immer wieder werde er zu verheerenden, dabei völlig unnötigen Brandschäden gerufen, die er dann mühevoll reparieren müsse, hatte Hank mit erhobenem Riesenfinger gewarnt. Ich wollte auf gar keinen Fall, dass uns so etwas je passierte! Sicherheitshalber besorgten wir uns ein elektronisches Feuchtigkeitsmessgerät, mit dem wir jedes Scheit kontrollierten, bevor es in den Ofen durfte. War es nicht knochentrocken und enthielt auch nur einige Prozent Wasser, wurde das Holz noch einmal für eine Weile in der Nähe des Ofens nachgetrocknet. Better safe than sorry, wie der Amerikaner sagen würde (übrigens eignete sich das Gerät auch hervorragend, um Flughörnchenurin in den Wänden aufzuspüren).
So hackten, schleppten, stapelten und trockneten wir und sorgten dafür, dass das Feuer niemals ausging. Doch obwohl wir es uns so kuschelig warm und gemütlich gemacht hatten, kam uns der Winter irgendwann zu lang vor. Alles schien zu stagnieren, nichts bewegte sich (außer den schnell verbrennenden Holzscheiten), die Welt schien buchstäblich eingefroren zu sein, bis in alle Ewigkeit, so fühlte es sich an. Man konnte sich immer weniger vorstellen, dass dieser Zustand jemals enden würde. Vielleicht lag es daran, dass hier die Jahreszeit den Tagesablauf so sehr bestimmte, dass man am Ende nur noch seine Monotonie wahrnahm. Das ewige Holzhacken. Das Schneeschaufeln und Eisbrechen, die erschwerte Fortbewegung, tagein, tagaus. Woche für Woche. Monat für Monat.
Als schließlich Anfang März die Tage merklich länger und wärmer wurden, atmete ich auf. Ich freute mich intensiver auf Frühling und Sommer als je zuvor. Außerdem konnte ich es kaum erwarten, meinen ersten Ahornsirup herzustellen. Schon vor Wochen hatte mir die Besitzerin eines kleinen Tante-Emma-Ladens in Woodstock alles über maple sugaring und tree tapping erzählt – und mir auch gleich die stählernen Zapfhähne, sogenannte spiles, samt Anleitungsbroschüre dazu verkauft. Mit einem Hammer schlug ich diese Hähne nun in drei nahegelegene Ahornbäume ein. Die dicken Stämme hatte ich zuvor mithilfe eines Handbohrers präpariert, und zwar anderthalb Meter über dem Boden zur Sonnenseite hin. Dort prangten jetzt trotz meines bescheidenen handwerklichen Geschicks tiefe, etwa ein Zentimeter breite Löcher, in welche die spiles genau hineinpassten. Ich hatte auch einige Stahleimer besorgt, die ich an Haken darunter aufhängte, um den Ahornsaft aufzufangen, jene Flüssigkeit, die durch den Baum fließt, um ihn mit Nährstoffen zu versorgen. Im Vorfrühling ist der sap besonders süß, da sich die im Holz gespeicherte Stärke in Zucker verwandelt, doch nur während der kurzen Zeit, in der die Nächte noch Frost bringen, die Tage aber schon warm sind, kann man ihn sammeln – denn nur dann läuft er auch aus dem Baum heraus! In der Tat steckt ein recht komplexer Prozess hinter dem maple sap flow: Es entsteht nämlich bei Minusgraden ein Unterdruck im Stamm, der dazu führt, dass Flüssigkeit angesaugt wird, die dann im Baum gefriert. Klettert das Thermometer nach oben, taut sie wieder, während gleichzeitig im Holz Gase expandieren und einen Überdruck erzeugen, der den Saft aus dem Stamm herausdrückt. Dieser Wechsel von Kälte und Wärme war es also, der nun meine drei Ahornbäume gewissermaßen zu Pumpen machte und die kostbare Nährstofflösung in meine Eimer tropfen ließ.
Ungefähr zwei Wochen lang sammelte ich täglich die Flüssigkeit ein und füllte sie in große Container, die ich draußen im Restschnee kühl hielt. Manchmal gaben die Bäume mehrere Liter in wenigen Stunden ab, zu anderen Zeiten tropfte es nur spärlich und am Ende eines Tages war gerade mal der Eimerboden benetzt (diesen einen Schluck trank ich dann meist aus, statt ihn abzufüllen). Schließlich stand ich aber mit etwa siebzig Litern Ahornsaft da, die nun zur Sirupgewinnung eingekocht werden mussten. Dazu bauten Paul und Phillip aus großen Steinen eine extra Feuerstelle neben unserem Haus, auf die wir dann zwei große Blechpfannen setzten. Diese befüllten wir nach und nach mit dem sap, der darin munter blubberte, brodelte und langsam verkochte. Einen ganzen Tag lang stiegen über dem Feuer duftende Dampfschwaden auf, während sich der süße Saft mehr und mehr reduzierte und konzentrierte. Man konnte sich gut vorstellen, wie schon vor Hunderten von Jahren die Ureinwohner Nordamerikas auf ähnliche Weise ihren Sirup kochten. Auch wenn es ewig dauerte – wir alle genossen es, den ganzen Tag draußen am Lagerfeuer zu sein, die Vorfrühlingsgerüche wahrzunehmen, die ersten jungen Knospen zu bestaunen und dabei etwas wahrhaft Besonderes herzustellen: Knapp zwei Liter Ahornsirup füllte ich am Ende des Tages in Gläser, dickflüssig, dunkelgolden und köstlich.
Während der vergangenen Monate hatte ich die Ziegen fast jeden Tag nach draußen gebracht. Sie liebten den Schnee, tobten darin herum und fraßen gern im Wald Äste, alte Blätter und vor allem Nadelhölzer, am liebsten Fichten- und Kiefernzweige. Dazu verschlangen sie Unmengen von Heu und bekamen auch eine Getreideration – trotzdem sah Leila nun im März immer noch unverändert schlank aus, obwohl sie in einigen Wochen Nachwuchs bekommen sollte, und ich wurde misstrauisch.
Ich hatte einiges gelernt, seit die Ziegen zu uns gekommen waren. Zum Beispiel, wie viel feines Heu sie auf