Land oder Leben. Claudia Heuermann
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Was ich nach all der Zeit allerdings immer noch nicht wusste, war, woran man eine trächtige Ziege erkennt. Da Leila weder runder, noch träger oder gar mütterlicher wurde, begann ich, an ihrer Schwangerschaft zu zweifeln.
»Warum wird sie denn gar nicht dicker?«, wunderte sich auch Paul.
»Da sind garantiert keine Babys drin«, stellte Phillip fest.
»Also, was meint ihr, Leute, hat es vielleicht nicht geklappt?«, fragte ich in die Familienrunde.
Kopfschütteln und Schulterzucken.
Ich war kein bisschen klüger. »So was kann bestimmt vorkommen, oder? Das gibt’s ja bei den Menschen auch. Aber das wäre jetzt wirklich saublöd, dann müsste ich noch ein ganzes Jahr auf die Milch warten.« Was würde aus meinen sorgfältig kalkulierten Käseplänen werden, nach all diesen Monaten der Arbeit?
»Gibt es nicht einen Schwangerschaftstest für Ziegen?«, fiel Tom schließlich ein.
Was? Das war’s! Warum war ich da nicht selbst draufgekommen? Zwar konnte ich nicht sagen, ob Tom es überhaupt ernst meinte – aber der Sache musste ich nun nachgehen.
Ich fragte herum, suchte Rat bei anderen Ziegenbesitzern, rief Sister Pamela an (die mir ausdrücklich die Potenz ihrer Böcke bestätigte) und fand schließlich Patty, die ein Stück weiter oben am Fluss, im Dorf Shandaken wohnte. Patty war eine wettergegerbte, derbe Bäuerin mit langen grauen Haaren und Lachfalten im Gesicht, und sie hielt schon seit Jahrzehnten jedes erdenkliche Getier. Sie wusste alles über Ziegen, schlachtete sogar selbst, und es hieß, sie musste noch nie einen Tierarzt konsultieren, so gut hatte sie alles im Griff. Doch selbst Patty sagte mir, dass sie an errechneten Geburtsterminen schon die eine oder andere Überraschung erlebt hatte. »Du könntest allerdings mal den bleach test ausprobieren, nicht sehr zuverlässig, aber schaden kann’s nicht«, schlug sie mir mit einem Augenzwinkern vor. Ich bedankte mich überschwänglich – endlich gab es etwas, das ich tun konnte!
Am nächsten Morgen stand ich auf der kühlen Weide, bewaffnet mit einem Plastikbecher, und wartete. Nur ein kleines bisschen von Leilas Urin musste ich ergattern, doch auf einmal musste sie kaum noch pinkeln, und wenn sie musste, dann tat sie es im Laufen. Es sah bestimmt absolut lächerlich aus, wie ich sie mit ausgestrecktem Arm, geduckt und stolpernd verfolgte – ich hätte wetten können, dass ich aus Nellys Richtung mehrfach ein belustigtes Schnauben hörte.
Nach langer Jagd und mit nassen Händen brachte ich schließlich einen viertelvollen Becher ins Haus. Endlich! In einer Minute würde ich wissen, ob Leila trächtig war oder nicht: Wenn ich den Urin in eine Schüssel mit chemischer Haushaltsbleiche schütten würde, dann würde die Anzahl der aufsteigenden Blasen die Schwangerschaft entweder bestätigen oder ausschließen. Viel Geblubber bedeutete ein positives Ergebnis, wenige oder keine bubbles: negativ.
Voller Spannung kippte ich das Pipi in die Schüssel – doch nichts geschah. Nicht eine einzige Blase stieg auf. Nicht schwanger! Verflixt!! Ich konnte es nicht glauben.
In den folgenden Wochen wiederholte ich den Test noch einige Male, sammelte sogar Vergleichsurin von Nelly ein (die sich wesentlich kooperativer zeigte und deren Urin deutlich mehr Blasen produzierte) und kam zum immer gleichen Ergebnis. Nicht schwanger. Selbst als Leila bereits ein dickes, fettes Euter gewachsen war.
Nach der Geburt (die schließlich vier Tage nach dem errechneten Termin stattfand) diente dieses Euter nun den beiden Zicklein als Quell des Lebens, und mir war die Parallele zu meiner eigenen Stillzeit akut bewusst. Das Euter roch auch ähnlich wie eine milchgefüllte Menschenbrust, und die Vorstellung, dort demnächst mit meinen eigenen Händen die Milch herauszudrücken, die eigentlich für die jungen Tiere produziert wurde, bereitete mir Unbehagen. War es nicht seltsam, dass wir als Menschen diese Flüssigkeit tranken, die eigentlich für die Aufzucht von Tierbabys bestimmt war? Zum Glück hatte ich noch etwas Zeit, die kleinen Ziegen verbrauchten alle Milch selbst, und ich schob den Gedanken ans Melken erst mal zur Seite.
Was ich allerdings nicht wegschieben konnte, war das Thema Enthornung. Dieser Eingriff musste mithilfe eines Brenneisens bereits ein paar Tage nach der Geburt vorgenommen werden, und zwar sobald die kleinen Hornansatzknubbel unter dem flauschigen Babyfell spürbar wurden. Eigentlich hätte ich gern die Hörner wachsen lassen – ich fand das natürlicher, schöner, und natürlich einfacher –, doch sowohl Sister Pamela als auch Patty aus Shandaken rieten mir ganz dringend zum Enthornen, und die beiden waren schließlich Expertinnen, im Gegensatz zu mir. Zu gefährlich und unpraktikabel seien die Hörner, eine Gefahr für Mensch und Tier, und da auch Leila und Nelly enthornt waren, wären sie den gehörnten Nachkommen unterlegen und schutzlos ausgeliefert. Verkaufen könne man gehörnte Ziegen auch schlecht, auf Ausstellungen würden sie disqualifiziert (nicht dass wir vorhatten, unsere Ziegen zur Schau zu stellen), und selbst mein Ratgeber widmete dem Thema disbudding ein ganzes Kapitel.
Obwohl ich schon ahnte, dass dies eine der furchtbarsten Aktivitäten des Bauernlebens sein würde, beugte ich mich also den Erfahrenen, ließ mir den Vorgang genau zeigen und erklären und ging fünf Tage nach der Geburt ans Werk.
Zuerst mussten die kleinen, niedlichen, flauschigen Ziegenbabys so fixiert werden, dass sie sich nicht bewegen konnten, und das war schon schlimm genug. In Decken gewickelt und festgeschnürt auf einem Holzgestell ahnten sie, dass nichts Gutes passieren würde, wehrten sich und schrien, dass es kaum zu ertragen war. Unglaublich, wie laut und stark ein fünf Tage altes Zicklein sein kann! Ich war bereits zu diesem Zeitpunkt schweißgebadet und mit den Nerven am Ende, und obwohl ich genau wusste, was zu tun war, schien es das Unmöglichste der Welt zu sein.
Ich atmete tief durch, warf noch einen letzten Blick auf die Gebrauchsanweisung …
… und dann drückte ich das rot glühende Brenneisen auf die Stelle zwischen Augen und Ohren, wo eigentlich die Hörner wachsen sollten. Zehn lange und qualvolle Sekunden lang. Pro Hornansatz. Mit sanftem Druck und Drehbewegung.
Der beißende Qualm, der Geruch von verbranntem Haar und Fleisch waren grauenvoll, aber am schlimmsten fand ich das Geschrei, die aufgerissenen Mäuler der Kleinen, die heraushängenden Zungen und verdrehten Augen.
In einigen Ländern darf diese Prozedur nur unter Narkose durchgeführt werden, und ich verstand, warum. Hier jedoch hieß es, dass die Betäubungsspritzen mindestens ebenso schmerzhaft und die Injektionen und Narkose noch stressiger für die Tiere seien als die Prozedur selbst, und tatsächlich: Kaum eine Minute später sprangen die Ziegenbabys schon wieder fröhlich herum, als wäre nichts gewesen. Da es kein Blut gab und die Wunden durch die Hitze sauber kauterisiert worden waren, konnten die beiden sofort von dannen toben und schienen im Nu alles vergessen zu haben. Mir hingegen zitterten noch Stunden später die Hände, ich fühlte mich schlecht, wie ein schrecklicher Tierquäler, und fragte mich, wie weit die Schreie wohl zu hören gewesen waren und ob womöglich jemand die Polizei alarmiert haben