Land oder Leben. Claudia Heuermann

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Land oder Leben - Claudia Heuermann

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Wohnung war schon wieder teurer geworden. Anfangs hatten wir den Staffelmietvertrag noch für ein Schnäppchen gehalten, doch inzwischen konnten wir unsere zwei Zimmer hier im Szeneviertel kaum noch bezahlen. Zu klein waren die sechzig Quadratmeter außerdem, zu eng, wir traten uns gegenseitig auf die Füße und gingen uns auf die Nerven. Mittlerweile zu viert, bräuchten wir für unser Baby Paul und den zweijährigen Phillip mindestens ein Zimmer mehr. Schon seit geraumer Zeit schauten wir uns immer wieder Wohnungen an, füllten Fragebögen aus, ließen uns auf Wartelisten setzen und von potenziellen Vermietern mit intimen Fragen löchern – und gingen doch am Ende immer leer aus. Für uns als selbstständig arbeitende Eltern mit Baby und Kleinkind gab es weit und breit keine passende, bezahlbare Wohnung, und während unsere Hoffnungen schwanden, machten sich Frust und Zukunftsangst immer breiter. Immer öfter fragte ich mich außerdem, ob unser Zuhause, diese Stadt, ein gutes Umfeld für die Kinder war. Der nächste Spielplatz lag zwanzig Minuten entfernt an einer Hauptverkehrsstraße. Der Park war noch weiter weg, und zu allem Übel hatte nun auch noch der kettenrauchende Nachbar angefangen, sich zu beschweren. Die Kinder seien zu laut, ließ er uns wissen, bei dem Lärm könne er nicht schlafen (da er nachts gewöhnlich sehr laut und lange in seiner Wohnung feierte, musste er sich tagsüber ausruhen). Das ständige Rumrennen in der Wohnung sei wie ein Erdbeben, schimpfte er, und dieses Geschrei – schrecklich! Er brauche seine Ruhe.

      Oh, ich wusste, was er meinte. Ich wünschte mir auch mehr Ruhe. Mehr Platz. Und weniger Hektik und Stress.

      »Vielleicht sollten wir aufs Land ziehen«, sagte ich eines Tages zu Tom. »Weißt du noch, wie wir Katrin und Alex im Schwarzwald besucht haben? So was in der Richtung hätte ich auch gern! Einen Hof, ein Bauernhaus … Wäre das nicht fantastisch für die Kinder? Gute Luft, viel Platz zum Spielen, wir hätten Ruhe – und Schweine und Kühe gleich nebenan.«

      »Genau, die stinken gen Himmel und machen einen Heidenlärm. Von wegen gute Luft und Ruhe! Und dann die Hirschgeweihe und Kuckucksuhren überall? Total spießig! Überhaupt, wer will denn schon irgendwo am Arsch der Welt wohnen?« Tom zeigte sich wenig begeistert.

      »Okay, hast du vielleicht ’ne bessere Idee?« Ich ließ mich nicht beirren: »Ich will keine enge, teure Wohnung. Ich will keinen Lärm, keinen Dreck und keine Autoabgase! Der Simon hat jetzt übrigens auch Asthma, hat Pauline erzählt. Und was meinst du, wo die ganzen Allergien herkommen?«

      »Wahrscheinlich müssten wir dann selbst ein Auto kaufen.«

      Das stimmte natürlich. Es gäbe auch keine Freunde in der Nähe, und Ausgehen oder Einkaufen würde einen gewissen Einsatz erfordern. Aber dafür hätten wir Platz, gespartes Geld und eine gesündere Umgebung für unsere Kinder.

      Warum genau wohnten wir denn eigentlich in der Stadt? Weil es so praktisch war? So einfach und kurzweilig? Hatten wir unsere wilden Jahre nicht längst hinter uns, und gab es nichts Wichtigeres im Leben? Sicher, es war großartig, aus dem Haus zu treten und Kultur, Kneipen und Kaufhäuser gleich um die Ecke zu haben. Doch zum regelmäßigen Ausgehen und Konsumieren fehlte ja nun ohnehin die Zeit.

      Nichts war mehr wie früher, seit Paul und Phillip da waren, die beiden hatten unser Leben völlig umgekrempelt, und lange Münchner Nächte existierten nur noch in der Erinnerung.

      Stattdessen hatten jetzt viele Dinge, die mir zuvor nicht mal einen Gedanken wert gewesen waren, eine neue Bedeutung bekommen. Ständig dachte ich über die Zukunft nach und stellte mir vor, wie die Kinder aufwachsen würden. Ich analysierte ihre Gesundheit und vertiefte mich in Ernährungsfragen. Themen wie Plastikmüll, Klimawandel, Massentierhaltung und Umweltgifte begannen, mein Bewusstsein zu beherrschen. Phthalate, Bisphenol A und Glyphosat wurden zur allgegenwärtigen Bedrohung. Hilfe! Ich musste etwas ändern!

      Immer öfter träumte ich von wilder Natur und weiten Wäldern. Von Wiesen und Seen und vom Rauschen der Blätter unter endlosem Himmel. Wäre es nicht wunderbar, wenn die Kinder einfach so raus könnten, zum Spielen, Bäumeklettern, Abenteuererleben? Wenn man nicht erst vier Stockwerke durchs muffige Treppenhaus hinunterlaufen müsste, um auf die Straße zu kommen? Wenn es diese Straße überhaupt nicht gäbe? Die Fantasie ging mit mir durch: unberührte Landschaft, grünes Gras und Felder vor der Tür. Obstbäume und Beeren zum Selbstpflücken. Einen großen Gemüsegarten müsste man haben, Essen zur Selbstversorgung könnte man anbauen, vielleicht sogar ein paar Tiere zur Nahrungsgewinnung halten. Ich wollte frei sein! Frei von den Übeln der Zivilisation. Frei von Müll und Gift. Weg vom Konsum – selbstbestimmt, im Einklang mit der Natur, so wollte ich leben!

      Aufgewachsen im Ruhrgebiet, hatte ich schon während meiner Kindheit davon geträumt, nach Kanada oder Alaska zu gehen und alles hinter mir zu lassen. Nirgendwo anders konnte man wirklich frei sein, dachte ich, und die nordamerikanische Wildnis war für mich schon damals der Inbegriff von Aufbruch, Wagnis und Abenteuer, was sicher auch mit der Lektüre meines damaligen Lieblingsromans Der Ruf der Wildnis von Jack London zu tun hatte. Ich liebte die Geschichte des Hundes Buck, war fasziniert von seinem Weg aus der Zivilisation in die wilden Wälder und bewunderte, wie er dort schließlich seine wahre Bestimmung und Heimat fand.

      Jetzt, dreißig Jahre später, war ich meinem einstigen Traum näher als je zuvor, und ein abenteuerlicher Plan begann Gestalt anzunehmen. Da uns durch Toms amerikanischen Pass die wichtigsten Türen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten offenstanden und mich meine Arbeit als Dokumentarfilmerin schon früher von München nach New York geführt hatte, rückte die nordamerikanische Wildnis in greifbare Nähe.

      Viele Abende saßen Tom und ich in den folgenden Wochen zusammen an unserem alten IKEA-Küchentisch und wälzten Bücher, Landkarten und Broschüren. Ich war voller Enthusiasmus, er zweifelte weiterhin. Wir redeten, debattierten und stritten. Wir träumten, planten und versöhnten uns. Wo wollten wir hin (nicht in den Schwarzwald, machte Tom klar), und was waren die Alternativen? Wie sollte unsere Zukunft aussehen?

      »Ich mag die Stadt, und ich brauche sie zur Inspiration«, sagte Tom mehr als einmal.

      »Die Kinder brauchen mehr Platz, wir alle brauchen mehr Ruhe, außerdem müssen wir Geld sparen, und es wäre doch toll, wenn wir ein gesünderes, ursprünglicheres Leben führen könnten«, lautete meine Standardantwort.

      »Ja, aber um welchen Preis? Ich finde Mistgabeln und Jauchegruben jetzt echt nicht so prickelnd, und ein Waldmensch oder Landei will ich auch nicht werden.«

      »Musst du ja auch nicht! Aber du könntest frische Eier von glücklichen Hühnern essen, könntest in Ruhe deine Bücher schreiben, und außerdem gibt’s supergünstige Häuser in den Wäldern nördlich von New York – da hätten wir garantiert keine finanziellen Sorgen mehr!«

      Das letzte Argument zog am meisten, glaube ich, und schließlich ließ sich Tom zu dem ultimativen Abenteuer überreden. Unter der Bedingung, dass alles, was mit Mist und Jauche zu tun hatte, in meinen Zuständigkeitsbereich fiel.

      »Ja, klar«, sagte ich, »überhaupt kein Problem.«

      Schon im folgenden Sommer brachen wir mit den Kindern und einem Teil unserer Ersparnisse Richtung Upstate New York und Kanada auf. In New York City mieteten wir einen Leihwagen, packten ihn voll Proviant und machten uns von dort auf den Weg nach Norden, den Hudson River hinauf. Um uns umzuschauen, mal zu schnuppern, uns zu orientieren und die Möglichkeiten auszuloten. Einen Monat wollten wir uns dafür Zeit nehmen.

      Wir fuhren hinaus aus Manhattan und der Bronx, vorbei an Yonkers, über die Tappan Zee Bridge und hinein in die Natur des grandiosen Hudson Valleys, das uns mit seiner wilden Schönheit begrüßte. Das ausgedehnte, gebirgige Hochland der Appalachen lag direkt vor uns, und der riesige, majestätische Fluss zog sich durch endlos weite Landschaften, gesäumt von Bergen und tiefen Wäldern. Wir kamen durch verschlafene Dörfer und urwüchsige Sumpfgebiete, passierten schroffe Felsen, über denen

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