Belgische Finsternis. Stephan Haas

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Belgische Finsternis - Stephan Haas

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Schokoriegeln und Kaugummis bestückte Vorderseite des Tresens.

      Augenblicklich tauchte schon wieder der Zwei-Meter-Hüne mit den blonden Haaren auf und sprang dem Pulloverträger zur Seite.

      »Du hast hier nichts zu wollen. Los, ab nach hinten!«, befahl er und versetzte dem Jungen einen Stoß in den Rücken.

      Der Junge schlich sichtlich verunsichert und mit gesenktem Blick an mir vorbei Richtung Schlangenende. Währenddessen sah ihm der Hüne mürrisch hinterher und blieb schließlich an meinem Blick hängen. Feindselig starrte er mich an.

      Inzwischen hatten sich einige Gäste von den Stühlen erhoben, um die Szenerie weiter verfolgen zu können. Manche schienen Gefallen daran zu finden, Gelächter machte sich breit. Doch dann, von einem Moment auf den anderen, schwenkten ihre Blicke hinüber zum Ausgang des Bistros. Dort stand ein etwa achtzigjähriger Herr im Anzug. In seinem Schatten, ein paar Zentimeter hinter ihm, erkannte ich den gut aussehenden Mann, der Sina vorhin die Tür aufgehalten hatte.

      Auch die beiden Kerle, die den Jungen runtergeputzt hatten, schenkten ihre ganze Aufmerksamkeit dem Alten. Dieser schaute streng. Sein markanter Kopf, der auf einem starken Hals saß, war leicht nach vorne gebeugt. Seine Lippen wirkten angespannt und bebten leicht, bevor er zu sprechen begann. »Schluss jetzt! In diesem Haus wird gegessen. Hier ist kein Platz für Streitigkeiten.«

      Die Stimme war kräftig und bestimmt. Der Hüne und der Mann im Wollpullover nickten ihm ohne Zögern zu und drehten sich im nächsten Moment demütig wie Messdiener zurück in Richtung Theke, wo ihr Essen sie erwartete. Auch die übrigen Gäste, die aufgestanden waren, setzten sich wieder.

      Ich blieb als Einziger perplex zurück und beobachtete, wie der Alte gemeinsam mit dem hinter ihm stehenden Mann das Bistro verließ.

      »Was ist passiert?«, fragte mich Lechat, der in der Zwischenzeit auf der Toilette gewesen war.

      Nachdem ich ihm die Ereignisse geschildert hatte, sagte er: »Dupont und Lennert gehen sie am besten aus dem Weg. Das sind zwei echte Raubeine.«

      Den Eindruck hatte ich auch gewonnen. Es schien nicht das erste Mal gewesen zu sein, dass die beiden Grobiane auf ihre Art und Weise in Erscheinung getreten waren. Mich beunruhigten seine Worte. Drohungen und körperliche Auseinandersetzungen gehörten hier offensichtlich zum Alltag. Und kaum jemand schien sich daran zu stören.

      Lechat trank seinen Kaffee in einem Zug aus und stellte die Tasse ab.

      »Danke für den Kaffee. Am besten, wir verschwinden jetzt.«

      6

      Lechats Golf Variant wirkte trotz seines respektablen Alters gut in Schuss. Im Wageninneren roch es nach frischem Lavendel, was wunderbar zu den blaugrauen Sitzen passte, die sich in einwandfreiem Zustand befanden. Die Klimaanlage brummte auf der höchsten Stufe und blies mir kalte Luft in Augen und Nase. Ich machte die Lüftungsklappen halb zu, um dem Schnupfen, der heute Morgen angeklopft hatte, den Riegel vorzuschieben.

      »Wenn es Ihnen zu kalt ist, sagen Sie einfach Bescheid«, sagte Lechat, während er sich den Gurt umlegte. Ich staunte über die Umsicht meines neuen Kollegen.

      »Danke, ein bisschen kühle Luft tut ganz gut nach der Aufregung«, sagte ich, während ich mich zwang, nicht an Elise und ihren neuen Lover zu denken. Wer auch immer dieser war.

      Ich richtete meinen Blick nach draußen, auf grüne Wiesen und Apfelbaumplantagen, die den Großteil der Landschaft prägten. Auf einem Holzschild las ich: »Hier wird Sirop de Liège hergestellt«. Die Delikatesse der Region, eine Art Apfelkraut, das gern zu Käse gegessen wird, war mir aus Brüssel bestens bekannt. Wenn wir nicht gerade erst losgefahren wären, hätte ich mich für einen kurzen Stopp eingesetzt. So aber fuhren wir weiter, entlang der Buchen- und Dornenhecken, die das flache Grün in Abschnitte unterteilten und den grasenden Kühen aufzeigten, zu welchem Bauern sie gehörten. Hier und da stand eine wuchtige Eiche oder eine dicke Buche, in deren Schatten ein paar der Tiere dösten. Hinter den Wiesen erkannte ich einige Bruchsteinhäuser. Sie standen am Fuß der großen Burg, die am Horizont über das Städtchen wachte.

      »Wer kümmert sich um die Burg?«

      Lechat räusperte sich und verzog das Gesicht. »Niemand. Die verrottet. Wie wir alle irgendwann.«

      Was für eine düstere Sicht auf das Leben. Und doch sagte er nur die Wahrheit.

      »Warum trägt sie kein Dach mehr?«

      »Oh … jetzt tauchen wir in die Geschichte ein«, sagte er mit einem Lächeln im Gesicht, offensichtlich froh darüber, dass sich jemand für die Historie seines Heimatortes interessierte. »Es wurde Anfang des 19. Jahrhunderts abgenommen, um eine unverhältnismäßig hohe Steuer zu umgehen. Bauwerke ohne Dach waren nach preußischem Erlass von dieser Steuer ausgenommen.«

      Ich blickte ihn fragend an.

      »Ja, die Region hier gehörte damals zum heutigen Deutschland. Erst seit 1920 – dem Versailler Vertrag sei Dank – dürfen wir uns Belgier nennen.« Er grinste zufrieden.

      Ich erinnerte mich, diese Information vorher schon einmal irgendwo aufgeschnappt zu haben, aber anscheinend hatte ich sie nicht ausreichend abgespeichert.

      »Weiß man, wem die Burg gehörte?«

      »Sie wurde im 14. Jahrhundert von einer limburgischen Adelsfamilie erbaut, damals hatte die Burg noch einen riesigen Wassergraben – sie galt als uneinnehmbar. Einige Jahre später ging sie dann an eine andere Adelsfamilie, bevor sie schließlich in private Hände fiel«, sagte Lechat so lässig, als hätte er die Antwort schon hundertmal geliefert.

      »Was war an dem Ort damals so reizvoll gewesen, dass sich hier Adelsfamilien niederließen?«, fragte ich.

      »Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen«, sagte er trocken. »In Raaffburg wurden vom 14. bis zum 18. Jahrhundert im großen Stil Tonmaterialien, hauptsächlich Krüge, gefertigt. Raaffburg war einst das Mekka der Töpfer, wenn Sie so wollen. Damit sind natürlich einige Leute reich geworden.«

      »Interessant«, sagte ich. Eine solche Geschichte hätte ich dem kleinen Ort gar nicht zugetraut. Doch eigentlich war ich ja für etwas Wichtigeres hier. »Was können Sie mir denn über den Fall erzählen?«, fragte ich Lechat, der linkslastig im Sitz hing und die rechte Hand aufs Steuer legte.

      »Warten Sie! Tun Sie mir einen Gefallen und unterschreiben Sie noch dieses Formular.«

      Er setzte sich aufrecht hin, griff mit einer Hand nach hinten auf die Rückbank und zog ein Papier hervor.

      »Was ist das?«

      »Damit bescheinigen Sie, dass Sie die Ermittlungen leiten«, sagte Lechat. »Karls bat mich darum. Er meinte, das müsste sein, da Sie eigentlich in Brüssel angestellt sind. Für die Bezahlung und so.«

      Ein solches Formular hatte ich bisher weder unterschrieben noch überhaupt gesehen. Allerdings hatte ich auch noch nie regionenübergreifend gearbeitet.

      »Vorher dürfen wir mit den Ermittlungen nicht beginnen«, brummte Lechat und lenkte den Wagen ruckartig nach links in eine Birkenallee.

      Ich las alles in Ruhe durch. Einmal. Und ein zweites Mal. Es handelte sich allem Anschein nach um ein routinemäßiges Amtsformular, das die Verantwortung in diesem Fall festlegte. Ich setzte zur Unterschrift an.

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