Belgische Finsternis. Stephan Haas
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»Sie wurden nie gefunden. Die Körperstümpfe der Opfer platzierte der Perversling in Löffelchenstellung in der freien Natur. Die Mutter hinten, der Sohn vorne. Mit den Kleidungsstücken der Opfer bedeckte er teilweise ihre Oberkörper.«
In Lechats Ton lag tiefe Abscheu. Ich schaute hinüber zu Bender, der seinen langen Körper zu Lechat hin krümmte. Mit offen stehendem Mund schob er die eckige blaue Brille zurecht und faltete dann seine Hände zurück in den Schoß.
»Gregory Weeber und seine Mutter Marie Weeber waren eines der Opferpaare. Das letzte.«
Lechat zwängte seine Hände in dünne Plastikhandschuhe, die er zuvor aus der Ledertasche zu seinen Füßen gekramt hatte. Dann zog er ein kleines hellblaues Buch hervor, befreite es von der Klarsichtfolie, in die es eingehüllt war, und legte es zwischen seine Hände auf den Tisch.
»Die Spurensicherung hat außer den Fingerabdrücken von Felix keine verwertbaren Spuren an dem Kalender gefunden. Die Handschuhe sind nur eine reine Vorsichtsmaßnahme von mir«, sagte er, bevor er schwer schluckte.
»Wo hat der Mörder seine Opfer überwältigt?«, fragte ich.
Lechat räusperte sich. »Beim ersten Mal hat er abends auf offener Straße zugeschlagen. Die drei Paare danach suchte er bei Nacht zu Hause auf. Und Gregory und seine Mutter fuhren mit dem Rad durch den Wald, als er sie überfiel.«
»Warum hat er nach drei Morden hinter verschlossener Tür wieder die Öffentlichkeit gewählt?«, fragte ich.
»Das ist jetzt eigentlich nicht so wichtig«, betonte Lechat höflich.
»Ich weiß. Trotzdem interessiert es mich. Warum ging er das Risiko ein?«
Lechat rümpfte die Nase. »Wir vermuten, dass ihm die Morde draußen einen größeren Kick gaben.«
»Den Kick, möglicherweise beobachtet zu werden?«
»Zum Beispiel.«
»Und wo wurden die Rümpfe gefunden?«
»Auf Wiesen oder im Wald«, erklärte Lechat trocken.
Plötzlich brummte Vanderhagens Stimme auf. »Damals sind ein Dutzend Jungs abgehauen. Die hatten alle Schiss vor dem Scheißpsychopathen!«
»Blödsinn!«, erwiderte Lechat. »Drei Familien sind weggezogen. Alle drei sind wieder zurückgekehrt, nachdem Heming gefasst war.«
Lechats Hand hatte sich zu einer Faust verkrampft, die über den Tisch quietschte. Verärgert schüttelte er den Kopf. Vanderhagen, der schwitzend neben mir saß, würdigte er dabei keines Blickes.
»Felix Riegen war der Einzige, der Raaffburg allein verlassen hat. Und das Wichtigste in unserem Fall: der Einzige, von dem wir bis zum heutigen Tag weder etwas gesehen noch gehört haben.«
Er blätterte in dem hellblauen Büchlein. Auf einer Seite am Ende des Buches legte er den behandschuhten Zeigefinger auf den Eintrag, der am 30. Juni 2003 mit kräftiger Bleistiftmine hineingeschrieben worden war. Sein Finger lenkte meinen Blick zu den Initialen GW.
»Nun stecken Sie das lächerliche Buch weg! Da hält uns doch wieder jemand zum Narren!«, blaffte Vanderhagen, bevor er sich mit verschränkten Armen zurück in den Stuhl lehnte.
»Wissen Sie, was ›konstruktiv‹ bedeutet?«, fragte ich Vanderhagen.
Er seufzte verächtlich und neigte seinen roten Kopf zu mir. »Natürlich, Herr Professor.«
Auf Lechats Hals trat eine Ader hervor. Sie zuckte. Seine Hände faltete er vor Schnauzer und Mund zusammen. Ich versuchte, die Lage zu entschärfen, und lenkte den Fokus wieder auf den Fall. »Sie glauben, dass Felix Riegen vor seinem Verschwinden noch Gregory Weeber gesehen hat?«
Lechat schaute mir ernst in die Augen und überlegte kurz, bevor er antwortete. »Der Eintrag ist keine Garantie dafür. Aber die Möglichkeit besteht, ja.«
»Vielleicht hat Gregory Felix bei seiner Flucht geholfen.« Ich musste zweimal hinsehen, bis ich glauben konnte, dass Bender gerade gesprochen hatte. Mit ängstlicher Stimme. Den Blick starr auf den Schülerkalender gerichtet.
Doch bevor ich etwas sagen konnte, schlug Vanderhagen mit seiner rot behaarten Faust auf den Tisch. »Ja, oder Felix hat die beiden umgebracht und sie dem Köpfchensammler untergejubelt. Mein Gott, wacht auf!«
Was mache ich nur mit diesem Idioten?
Am liebsten hätte ich ihn rausgeschmissen. Das hätte ihm sicherlich gefallen. Aber so schwer es mir auch fiel, ich blieb ruhig. Aus Erfahrung wusste ich, dass bewusstes Ignorieren in so einem Fall oftmals Wunder bewirkte. Ich kam also wieder auf den Fall zurück und versuchte, Lechat aus der Reserve zu locken. »Wenn Gregory Weeber und seine Mutter Marie tot sind, was ist die Spur dann wert?«
»Gute Frage, Professor«, lobte Vanderhagen mich und bewegte seinen roten Kopf mehrmals auf und ab, was wohl ein zustimmendes Nicken sein sollte. »Das ist doch alles sinnlos!«
Entweder hatte Vanderhagen zu viel Wodka getrunken, oder sein ohnehin rotes Gesicht hatte zu lange in der Sonne geschmort. Lechats Ader pulsierte nun schneller als vorhin. Die Glupschaugen zogen sich zusammen und zeigten tiefe Verachtung. Dann beugte er seinen Körper nach vorne und packte Vanderhagen am Kragen.
»Sie Trottel, hauen Sie bloß ab!«
Erst war ich zusammengezuckt, derart furchteinflößend hatte Lechats Stimme geklungen. Dann sprang ich auf, legte meine Arme um Lechats Schultern und zog ihn von Vanderhagen weg. Lechat schnaufte und tupfte mit einem Stofftaschentuch seine Stirn ab. Vanderhagen blieb schockiert stehen.
»Ella Weeber wird gleich hierherkommen«, wandte Lechat sich schwer atmend an mich. »Sie ist Gregorys Schwester. Damals durfte sie nicht verhört werden, weil ihr Therapeut dagegen war. Sie ist unsere Chance.«
Vanderhagen verzog sich zu seinem PC. Lechat sah ihm geringschätzig hinterher und seufzte. »Unsere letzte.«
»Die Menschen hier waren nicht immer so mürrisch, wie Sie sie heute vorfinden. Das kam erst mit dem Köpfchensammler«, erklärte Lechat, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte. Er und ich hatten das Präsidium kurz verlassen, weil sein Zigarettenvorrat aufgefüllt werden musste, wie er sagte. Der wahre Grund war natürlich, dass er Vanderhagens Visage nicht mehr ertrug.
»Erst waren die Leute verängstigt. Vor allem die Jungs aus dem Ort trauten sich nicht mehr vor die Tür. Öffentliche Partys wurden abgesagt. Ab und zu wurde privat gefeiert, auch das war aber eher selten. Einige kauften sich einen Hund, andere installierten Alarmanlagen oder legten sich nachts mit einem Baseballschläger auf die Lauer. Das Schlimmste aber war, dass die Leute sich gegenseitig verdächtigten. Die Presse spielte das Spielchen munter mit. Aus jedem Gerücht machte sie eine Story. Und wenn es sein musste, erfand sie eine«, erzählte Lechat, während er in periodischen Abständen sein Feuerzeug aufflammen ließ. »Die Menschen spielen verrückt, sobald sie mehr Aufmerksamkeit bekommen, als sie gewohnt sind. Und bei Verbrechen ist das ganz besonders so.«
Ich fragte mich, worum es hier eigentlich ging und wofür ich hierhergekommen war. Karls hatte verheißungsvoll von einer neuen Spur gesprochen. Ein Schülerkalendereintrag, der auf eine Person verwies, die seit Jahren tot war, fühlte sich jedoch eher an wie der Fund eines Kieselsteins in einem