Belgische Finsternis. Stephan Haas

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Belgische Finsternis - Stephan Haas

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dir gut, was du sagst, Ella.«

      »Das alles geht an meine Nerven. Das Versteckspiel. Die ewige Warterei … das macht mich krank. Ich kann so nicht mehr weitermachen. Wenn bis September nichts geregelt ist, dann –«

      »Dann was?«

      Ella streckte die freie Hand nach oben, spürte das Kitzeln der Blätter. Wahllos umschloss sie ein Blatt und riss es ab.

      »Wie kannst du es wagen, mir ein Ultimatum zu stellen? Du hast mir alles zu verdanken. Du rufst mich heute Abend an!« Die Stimme ließ keinen Widerspruch zu.

      Ella brachte ein jämmerliches »Ja« hervor, doch im selben Augenblick vernahm sie das Tuten. Ihr Gesprächspartner hatte aufgelegt.

      Tränen rannen aus ihren Augen. Als sie sie wegwischen wollte, bemerkte sie das abgerissene Blatt in ihrer Hand wieder. Sie öffnete die Handfläche und sah, eingehüllt inmitten des Blattes, den Marienkäfer.

      Er war tot.

      9

      Ein kleines Büro auf der Nordseite des Gebäudes diente als Vernehmungszimmer. Ella Weeber saß mit dem Rücken zur Glastür, durch die ich sie beobachtete. Sie war mit zehn Minuten Verspätung erschienen. Bekleidet mit einer weißen Bluse, die am Rücken von Schweiß durchnässt war. Mit beiden Händen umklammerte sie das bereits leer getrunkene Wasserglas, das vor ihr auf dem Tisch stand. Ihre Schuhe hatte sie ausgezogen. Die Zehen krallte sie fest in den grünen Teppichboden.

      Wir gingen zu zweit hinein: Bender und ich. Damit wollte ich dem jungen Kollegen etwas Praxis verschaffen. Außerdem war ich der Meinung, dass ihm ein wenig Abwechslung vom Büroalltag mit Vanderhagen nicht schaden konnte. Lechat zeigte sich einverstanden und schaute von draußen zu.

      »Wie geht es Ihnen?«

      Die Frage sollte eigentlich der Auflockerung dienen, verfehlte aber ihr Ziel.

      »Es ging mir schon mal besser. Danke.«

      Sie drückte ihre Wirbelsäule durch, als hätte sie jemand ermahnt, aufrecht zu sitzen.

      »Gibt es einen besonderen Grund, warum es Ihnen derzeit nicht gut geht?«

      Sie zögerte mit der Antwort.

      »Es ist, es ist nicht einfach …«, sie machte eine Pause, »… konfrontiert zu werden mit dem, was passiert ist.«

      Mit so vielen Emotionen gleich zu Beginn hatte ich nicht gerechnet. Ich versuchte, sie zu beruhigen.

      »Das ist ganz normal. Lassen Sie sich ruhig Zeit.«

      Nach ein paar Sekunden schien sie sich gefangen zu haben.

      »Wir haben den Schülerkalender von Felix Riegen gefunden.«

      An ihrem langsamen Nicken erkannte ich, dass ihr der Name noch ein Begriff war.

      »Am Tag von Felix’ Verschwinden ist etwas vermerkt.« Ich zeigte ihr den Schülerkalender und den Eintrag. Sie blinzelte dreimal, dann verzog sich ihr Gesicht, als wollte sie zu weinen anfangen. Doch ihr gelang es, die Tränen zurückzuhalten.

      »Es ist derselbe Tag –«

      »Ich weiß.«

      Ich versuchte, soweit es ging zu vermeiden, sie mit den Geschehnissen zu konfrontieren, die ihre Familie betrafen. Allerdings sah ich mich auch in der Verantwortung, die Ermittlungen sorgfältig zu führen.

      »Was möchten Sie wissen?«, fragte sie.

      Kurz und schmerzlos. Sie wollte die Sache offensichtlich schnell hinter sich bringen.

      »Können Sie uns schildern, wie Sie den Tag damals erlebt haben?« Meine Stimme war leise und fast ohne Intonation.

      »Es war der letzte Schultag. Wir hatten morgens unsere Zeugnisse erhalten. Meins war gut, auch wenn ich kaum gelernt hatte.« Sie lächelte verlegen. Dann wurde sie wieder ernst. »Ich war im Wetzlarbad mit einigen Freundinnen schwimmen. Wir kamen früher zurück als geplant, da es irgendwann zu regnen begonnen hatte. Als ich in der Stadt aus dem Bus stieg, hat Wilma Ersfeld auf uns gewartet. Sie kam auf mich zu, und ich … ich hab sofort geahnt, dass was passiert sein musste. Wir setzten uns auf die überdachte Bank, da, wo heute der Petanque-Platz ist. Dann sagte sie mir …«

      Der Druck war zu stark, eine Träne trat aus ihrem rechten Auge. Ella Weeber stützte ihren Kopf auf die linke Hand. Schluchzend fuhr sie fort.

      »An danach kann ich mich kaum noch erinnern. Ich wusste nur, dass ich von Raaffburg wegwollte.«

      Ich reichte ihr ein Taschentuch. Sie setzte ihre Brille ab und tupfte sich das Gesicht trocken.

      »Wohin sind Sie dann mit Ihrem Vater gegangen?«

      »Mein Vater hatte sich zwei Jahre vorher nach Las Vegas abgesetzt.«

      »Sie waren also plötzlich allein?«

      »Ich bin nach Trier gegangen«, antwortete sie nüchtern.

      »Allein?«, wiederholte ich verwundert.

      »Zu einer Pflegefamilie.« Sie klang bekümmert. Das Taschentuch wanderte von einem Auge zum anderen.

      Dass sie als Belgierin bei einer Familie in Deutschland untergekommen war, überraschte mich nicht. Ich hatte davon gelesen, dass der deutschsprachige Osten Belgiens aufgrund der landesinternen Sprachbarriere verschiedene Kooperationen im Pflege- und Gesundheitsbereich mit den angrenzenden Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz unterhielt.

      »Beschreiben Sie bitte Felix Riegen«, brachte Bender plötzlich in einer Stimmlage hervor, die klang wie eine Gitarrensaite kurz vorm Zerreißen.

      Die Frage kam für meinen Geschmack zu früh, lieber hätte ich sie gegen Ende des Gesprächs gestellt.

      Ella Weeber setzte die Brille wieder auf und blickte den jungen Kollegen an, als habe sie ihn gerade erst wahrgenommen.

      »Felix war ein Freund meines Bruders. Früher, als sie noch Fußball gespielt haben, enger als später. Ich habe nicht immer alles mitbekommen … war ja jünger als die beiden.«

      Sie kratzte sich fahrig am Ellbogen. »Er war schludrig und ungepflegt. Ich hab ihn meist nur gesehen, wenn er bei meiner Mutter Klavier gespielt hat. Ab und zu vertickte er auch Drogen.«

      »Was für Drogen?«, fragte ich.

      »Nichts Schlimmes. Hauptsächlich Hasch. Später wurde er ein bisschen seriöser. Hat für irgendwas gespart, das sagte er zumindest.« Ella Weeber machte ein ratloses Gesicht.

      »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

      »Ich weiß es nicht. Hatte nicht viel mit ihm zu tun.«

      »Und Ihren Bruder?«

      Meine Frage klang barscher als beabsichtigt. Ella Weeber stockte und blieb einige Sekunden lang stumm.

      »Am Abend vorher«, antwortete sie schließlich. »Allerdings

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