Belgische Finsternis. Stephan Haas
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»Ja … nein. Eigentlich nein. Es fing alles mit diesem Kurzgeschichtenwettbewerb an. Gregory war immer sehr ehrgeizig. Er wollte mehr von der Welt sehen als nur Raaffburg. Sein ganzes Zimmer war voller Poster von Reisezielen.«
Sie gestikulierte wild, ohne zu merken, wie wirr sie antwortete.
Ich wurde hellhörig. »Was für ein Wettbewerb war das genau?«
»Wie ich schon sagte, Kurzgeschichten. Organisiert durch die Schule. Der Sieger durfte für zwei Monate im Schulaustausch nach Madagaskar.«
Madagaskar also.
»Und der Sieger stand schon vorher fest«, schlussfolgerte ich.
Sie nickte. »Keiner konnte so gut schreiben wie Gregory.«
»Aber er hat nicht gewonnen?«
Sie schluckte laut. »Nein. Felix war der Sieger.«
»Was hat Ihr Bruder dann gemacht?«
»Er war enttäuscht. Saß tagelang in seinem Zimmer, fing an zu trinken. Und dann … war er tot.« Ihr Gesicht verzerrte sich, und es kullerten erneut Tränen aus den müden blauen Augen.
Bender schien diesen Umstand nicht bemerkt zu haben. »Wann war das?«, fragte er, etwas mutiger als eben.
Ich merkte, dass Ella Weeber nicht genau wusste, was Bender meinte. »Der Wettbewerb«, konkretisierte ich.
»Ungefähr zwei Wochen vorher.« Ella Weeber schlug ihre Hände vors Gesicht. Dann nahm sie das dünne Brillengestell von ihrer Nase und wischte sich mit einem neuen Taschentuch trocken. Ihre Trauer wirkte ehrlich.
»Erlauben Sie mir noch eine Frage, Frau Weeber?«
Ich wartete ihre Reaktion ab.
Sie nickte mit leicht bebenden Lippen.
»Können Sie sich vorstellen, was der Grund für das im Schülerkalender notierte Treffen der beiden gewesen sein könnte?«
»Nein.«
Ihre Antwort kam schnell. Ich hakte nach.
»Keine Idee?«
»Es kann alles gewesen sein. Fußball spielen, schwimmen … Ich weiß es nicht.« Sie putzte lautstark ihre triefende Nase.
»War Gregory eifersüchtig auf Felix Riegen wegen des Wettbewerbs?«, fragte ich, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war.
Ihr Gesicht erstarrte, als überlegte sie, ob sie mir tatsächlich eine Antwort auf meine Frage geben wollte. »Er war enttäuscht. Er war aber nicht aggressiv, wenn Sie das meinen.«
»Wenn er tagelang enttäuscht in seinem Zimmer saß, kann er da nicht was ausgebrütet haben?«
Sie zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« Sie legte ihre Hände vors Gesicht und brach dahinter erneut in Tränen aus.
Die Konfrontation mit den Ereignissen von damals machte ihr mehr zu schaffen, als ich im Vorfeld angenommen hatte. Ich entließ sie und bedankte mich für ihr Erscheinen. Sie sicherte mir zu, noch bis übermorgen zu bleiben, sollten bis dahin noch Fragen aufkommen. Dann verließ sie niedergeschlagen das Vernehmungszimmer und trottete auf das Großraumbüro zu, durch das sie nach draußen gelangen konnte.
Derweil schlug ich den Weg in die Küche ein. Ich war noch in Gedanken bei ihrem Schicksal, als ich von hinten Vanderhagens gehässiges Lachen hörte. Als er sich meiner Aufmerksamkeit sicher war, drehte er übertrieben seine Fäuste vor den Augenhöhlen und senkte die Mundwinkel theatralisch nach unten, als würde er heulen.
Dieser Idiot! Er muss sie durch das Fenster beobachtet haben.
Ich zwang mich zur Selbstkontrolle. »Wussten Sie von dem Kurzgeschichtenwettbewerb?«
»Ja klar. Haben wir schon ermittelt.« Eine widerliche Selbstzufriedenheit prangte in seinem Gesicht.
Bleib ruhig. Es gibt jetzt Wichtigeres!
»Wo sind die Reisetickets, die der Gewinner bekommen sollte?«
»Die Tickets wurden nie gefunden.«
»Vielleicht wurden die Tickets registriert«, wandte Bender ein.
Vanderhagen schaute ihn abfällig an. »Wurde damals schon überprüft. Die Tickets wurden nie benutzt. Da haben wir die Bestätigung der Fluggesellschaft.«
»Womit wurde der Abgleich gemacht, wenn die Tickets nicht gefunden wurden?«, prüfte ich seine Aussage. Ich wollte auf Nummer sicher gehen.
»Mit der Bestellbestätigung natürlich«, erwiderte er gereizt. »Da standen die Ticketnummern drauf.«
»Und trotzdem glauben Sie, dass Felix Riegen nach Afrika ausgewandert ist?«
Seine Augen zogen sich eng zusammen. »Denken Sie wirklich, der Junge ist so blöd und benutzt die Tickets? Der hat einfach andere gekauft.«
»Was? Auch für Madagaskar?«, fragte ich erstaunt.
»Ach«, winkte er ab. »Was weiß ich, was der Knabe gemacht hat.«
»Mit Behauptungen kommen wir hier nicht weiter. Haben Sie Belege dafür?«, fragte ich, erntete dann aber ein zähneknirschendes Kopfschütteln.
Innerlich machte ich es ihm nach. Ich konnte es nicht leiden, wenn Menschen lose Behauptungen ohne Fundament in die Welt setzten und damit nicht nur ihre, sondern auch meine Zeit vergeudeten.
»Prüfen Sie bitte bei den Behörden in Madagaskar, ob dort jemals ein Felix Riegen eingereist ist!«, sagte ich streng. Mit ernster Miene zog Vanderhagen Richtung Schreibtisch ab. Einen Augenblick danach entfernte sich auch Bender, um seinen Block mit Notizen zu füllen.
Ich nutzte die kurze Pause, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. Während ich trank, lehnte ich im Türrahmen. Meine Aufmerksamkeit fiel auf Ella Weeber, die ich durch die Scheibe im Großraumbüro sehen konnte. Zu meiner Verwunderung kauerte sie am Boden und hielt ein Blatt Papier in der Hand, das offenbar zusammen mit anderen heruntergefallen war. Ihre Augen wirkten groß und ließen vermuten, dass sie etwas Schreckliches sahen. Ich wollte zu ihr, fragen, was los war. Doch noch bevor ich die Tür erreicht hatte, lief sie hinaus in Richtung Treppenhaus.
Ich eilte ihr hinterher, doch ich kam zu spät. Ich konnte nur noch beobachten, wie ihre Beine einknickten und ihr Körper seitlich gegen die Wand prallte. Sie knallte mit den Knien auf den Boden. Ihr Mund war weit aufgerissen, brachte aber keinen Laut hervor. Ihre Arme lagen schwach in ihrem Schoß.
Dann brach sie in lautes Schluchzen aus.
»Wenn ich an ihn denke, habe ich oft dieses Bild vor Augen.«
Es war das Erste, das Ella Weeber sagte, nach mehreren Minuten, in denen ich versucht hatte, sie zu beruhigen.
Die angenehme Kühle im Treppenhaus hatte ihr offenbar gutgetan.
»Er sitzt am Küchentisch, turnt auf der Eckbank rum und isst zwischendurch