Belgische Finsternis. Stephan Haas
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Verdammt! Du bist nicht umsonst hergekommen!
Ich hatte die Schnauze voll davon, mich selbst zu bemitleiden.
»Lassen Sie uns den verfluchten Jungen finden!«, raunte ich.
Lechat blickte mich verwirrt an, als ich aufstand.
»Und lassen Sie die Leute tuscheln. Darauf haben wir sowieso keinen Einfluss.«
Lechat nickte und presste entschlossen seine Lippen zusammen. Dann warf er die noch qualmende Zigarette in den Kies.
»Wir werden ihn finden«, sagte er schließlich, als wollte er sich dadurch selbst ermutigen.
Entschlossen hob ich den Kopf. Meine Augen fixierten die schreienden Graffiti-Gesichter, mit denen der Kiosk versehen war. Und mir war, als erkannte ich darin den vermissten Jungen.
8
Sie fuhr nicht gern weite Strecken. Die Fahrt von Köln nach Raaffburg war schon zu lang. Der Stau auf der A 4 und die warme Luft im Auto hatten sie müde werden lassen. Immer wieder klappten ihre Lider zu. Und am liebsten hätte Ella sie ganz zufallen lassen.
Immerhin verlief der Check-in im Hotel problemlos. Lechat hatte alles geregelt. Ella erhielt die Juniorsuite, da alle anderen Zimmer belegt waren. Offenbar fand in der Nachbarstadt eine Handwerkermesse statt.
Während ein Angestellter ihr Gepäck nach oben brachte, nutzte sie die Gelegenheit, vor dem Hoteleingang eine Zigarette zu rauchen. Als sie gerade den letzten Zug nahm und wieder den Weg zurück ins Hotel antreten wollte, erklang aus dem Bushäuschen nebenan plötzlich eine dunkle Stimme.
»Ella?«
Sie schaute sich um und konnte die Stimme einem schwarzhaarigen Mann in Lederjacke zuordnen, der sich mit qualmender Zigarette langsam auf sie zubewegte.
»Ja?«, sagte Ella zögerlich. »Kennen wir uns?«
»Erinnerst du dich nicht?«, fragte der Unbekannte mit einem selbstsicheren Grinsen, während er den Kragen des weißen Hemdes richtete, das er unter der Lederjacke trug. Sein Gesicht schien frisch rasiert, der Bartschatten war jedoch sichtbar. »Marlon Merks.«
»Marlon?«, fragte Ella verdutzt.
Jetzt erkannte sie ihn. Damals war er kleiner und schmächtiger gewesen. Er musste mit siebzehn oder achtzehn noch mal einen Schuss gemacht haben. Früher hatten einige Mädels aus Ellas Klasse Marlon angehimmelt. Mit seinem südländischen Aussehen hatte er bei Mädchen hoch im Kurs gestanden.
Dein Vorhaben, keine Bekannten zu treffen, klappt ja wunderbar!
»Was machst du denn hier?«
Und jetzt stellt er auch noch Fragen …
»Ich musste hier zur Gemeinde wegen einer Formalität«, erwiderte sie.
»Jedenfalls ist es schön, dich mal wiederzusehen. Gut siehst du aus!«, sagte er und zog dabei gekonnt eine dunkle Augenbraue hoch.
Ella fühlte sich geschmeichelt, obschon sie gleichzeitig das Gefühl beschlich, dass er log. Sie hielt sich selbst keineswegs für gut aussehend. Ihr Gesicht empfand sie als zu rund und ihre Brille als zu spießig. Zudem hatten ihre Haare in den letzten Monaten wenig Aufmerksamkeit erhalten und fristeten ein widerspenstiges Dasein.
»Lust, morgen einen Kaffee trinken zu gehen? Wir haben uns sicher viel zu erzählen«, fragte Marlon und blickte Ella erwartungsvoll in die Augen.
Ella konnte sich nicht daran erinnern, jemals mehr als drei Worte mit ihm gesprochen zu haben. Er war damals in dieselbe Klasse wie Gregory gegangen, daher kannte sie ihn.
Los, sag was, bevor er weitere Fragen stellt!
Er kam ihr zuvor.
»Hör zu, da kommt mein Bus. Meine Schicht bei Rehnhof fängt gleich an. Gibst du mir deine Handynummer?«, fragte Marlon und zückte sein Handy.
Tu es nicht!
Der Bus war schon vorgefahren. Unmöglich konnte er ihre Nummer jetzt noch eintippen.
»Ich weiß sie gerade nicht auswendig. Wir treffen uns ja vielleicht mal so irgendwo«, rief Ella ihm hinterher.
»Na dann, bis bald mal«, sagte Marlon, während sich sein Mund verzog. Dann schnippte er die Zigarette weg und stieg in den Bus.
Er steigt ein. Gut so.
Im nächsten Augenblick schloss der Bus seine Türen und fuhr davon. Marlon stand am hinteren Fenster und starrte sie beim Davonfahren weiter an. Lächelnd, aber mit einem seltsam durchdringenden Blick. Hinten auf der Anzeige las Ella die Endstation: Buschberg.
Merkwürdig, dachte sie. Sie wusste, dass Rehnhof in der entgegengesetzten Richtung von Buschberg lag.
Wo auch immer Marlon hinfuhr, zum Fertigkostbetrieb ganz sicher nicht.
Bevor Ella zu dem Termin im Präsidium fahren würde, zog es sie an den Ort, wo ihr Bruder und ihre Mutter begraben worden waren. Fast auf den Tag genau vor fünfzehn Jahren.
Ella parkte vor der Kirche und machte ein Kreuzzeichen, als sie ausstieg. Sie ging auf den Eingang des kleinen Friedhofs zu, der neben der Kirche lag. Als sie das schwarze, mit Rosenmustern verzierte Tor öffnete und den roten Splitt betrat, kamen die Erinnerungen an schöne Sommertage zurück. Sie musste schmunzeln, als die Bilder wie ein Film in ihrem Kopf abliefen. Wie sie mit Mama und Gregory die Gräber ihrer Großeltern besuchte. Sie rannte Gregory mit ihrer pinken Gießkanne hinterher und versuchte, ihn mit Wasser zu bespritzen. Der ältere Bruder war natürlich schneller als sie. Sie erwischte ihn nur dann, wenn er es wollte – diesmal aber nicht. An seiner Stelle traf sie ausgerechnet die alte Frau Rubin, die von einigen Personen im Ort ernsthaft für eine Hexe gehalten wurde. Frau Rubin ärgerte sich, verpasste Ella mit der flachen Hand eine Ohrfeige und schimpfte: »Habt ihr denn gar keinen Respekt vor den Seelen, die hier liegen?«
Mama hatte alles mitbekommen. Ihre Pupillen weiteten sich, aber sie sagte ganz ruhig: »Respektlos ist der, der Lebenden Leid zufügt.«
Die Rubin stampfte durch den roten Splitt davon und hatte es nach diesem Zwischenfall nie mehr gewagt, irgendein Kind vom Spielen abzuhalten.
Angekommen am Grab, kniete Ella sich hin. Dann drückte sie ihre Brille an die Nase. Der Grabstein aus Marmor war groß. »Ruhet in Frieden«, war mit geschwungener Schrift eingraviert. Vor dem Stein blühten bunte Stiefmütterchen, so wie Ella es bei der Gärtnerei beauftragt hatte. Es machte sie glücklich zu sehen, dass das Grab gut gepflegt war. Aber wenn sie sich vorstellte, dass unter diesen Pflanzen ihre Mutter und ihr Bruder liegen sollten, erschien ihr das surreal.
Sie waren ihr noch so nah.
Mama. Ella erinnerte sich mit solcher Wärme an sie, als wäre sie erst gestern gegangen. Wie sie Lieder gesungen hatte, bis Ella einschlief. Stundenlang, mit tiefer Hingabe. Diese Liebe und Geborgenheit fehlten ihr. Sie war eine solch mutige, lebensbejahende Frau gewesen. Warum musste sie sterben?
Abrupt