Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar

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Radikalisierung - Farhad Khosrokhavar

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Salafismus: Eine neue Ausprägung des Sektierertums im Islam

       Radikalisierung im Gefängnis

       Frustration im Gefängnis

       Die muslimischen Gefängnisgeistlichen und ihre schwierige Mittlerrolle

       Die Radikalisierung in der Haft und ihre Akteure

       Ein neuer Radikalismus auf dem Vormarsch

       Radikalisierung versus Deradikalisierung

       Weiblicher Dschihadismus

       Schlusswort

       Literatur

      Claus Leggewie

      Die Kulturwissenschaften sind entstanden und haben ihre besten Momente in jenen Zeiten, in denen die Welt aus den Fugen zu geraten scheint und sich Phänomene zeigen, die schwer in jenen „sinnhaften Aufbau der sozialen Welt“ (Alfred Schütz) passen, den man „normalerweise“ für garantiert hält. Eine solche Irritation produziert seit Jahrzehnten der Terror, der zuletzt von islamistischen Gruppen ausgeht. Woher kommt die mörderische Entschlossenheit, wahllos Wehrlose abzuschlachten? Wie kann es sein, dass jemand sein eigenes Leben dafür opfert? Wie ist es möglich, dass sich säkular-agnostische Menschen zu einer Spielart von Religion bekehren, die den barbarischen Dschihad zum Markenkern erhoben hat? Warum lassen sich Konvertiten als Selbstmord-­attentäter verheizen, und warum sind unter ihnen junge Frauen, die sich einem brutalen Patriarchat unterwerfen müssen? Warum verlassen junge Leute die westliche Konsumkultur, warum schlagen muslimische Einwanderer diese so radikal aus?

      Über solche Fragen wird auf Podien und in Talkshows spekuliert, akademische Kreise werfen ihre Ableitungsmaschine an, um irritierende Anomien sozialpsychologisch und sozialstrukturell auf nachvollziehbare Ursachen zurückzuführen. Da das oft zu unzulässigen Generalisierungen oder hilflosen Gemeinplätzen führt, ist die genaue Beschreibung eines Einzelfalls gegeben. Denn in Hunderten von Fällen haben gleiche oder ähnliche Voraussetzungen alles andere als Terrorismus produziert. Beweggründe und Wirkungen des von Dschihadisten ausgelösten Schreckens kann man auch (und manchmal besonders gut) verstehen, wenn man seinen subjektiven, also je individuellen und inkommensurablen Bedingungen nachgeht. Das ist keine kulturwissenschaftliche Fingerübung, sondern die methodische Beobachtung von Gegnern, ja erklärten Feinden, die mit ihren Mordtaten ganze Gesellschaften aus dem Gleichgewicht bringen wollen.

      Farhad Khosrokhavar unternimmt diesen Versuch. Der 1948 im Iran geborene und seit Ende der 1960er Jahre in Frankreich tätige Soziologe ist Studiendirektor des von Alain Touraine initiierten Centre d’Analyse et d’Intervention Sociologiques an der renommierten Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris und hat schon diverse Studien über die (unter anderem dschihadistische) Radikalisierung junger Leute erarbeitet. Zugute kommen ihm dabei zum einen seine philosophische Ausbildung als an Husserl und Heidegger geschulter Phänomenologe und zum anderen Erfahrungen, die er bei einem Intermezzo im Iran der Islamischen Revolution gemacht hat. Aus seinen Feldbeobachtungen und Fallstudien in Frankreich ergibt sich eine Wirkungskette, die im depravierten Leben in den Vorstädten startet und über die jugendliche Kleinkriminalität (Schwarzfahren, Drogenhandel, Stehlen) und das Gefängnis in den Kriegstourismus und nach der Rückkehr zum Dschihad im Westen führt. Wie gesagt: bei einigen, und nicht notwendigerweise. Wut und Frustration sind in der Banlieue weit verbreitet, aber die bis zum Dschihad führende Radikalisierung ist ein “ultraminoritäres Phänomen”.

      Fehlt hier etwas? Nicht unbedingt muss Religion, genauer: eine radikal einseitige Auslegung des Islam als Treiber individueller und kollektiver Radikalisierung hinzukommen – der Weg in den Terror kann, muss aber nicht über die Moschee führen. Bei immer mehr „ausländischen Kämpfern“ und Attentätern stellt man nur ganz oberflächliche Berührungen mit der Religion fest; der Islam beeindruckt eher eine nicht unbeträchtliche Zahl überangepasster Konvertiten.

      Was für die meisten Täter hingegen zutrifft, ist eine soziale Isolation und Frustration, deren Ursprungsort oft eine dysfunktionale Familie ist. Eine ultramilitante Aggressivität ist für viele Kämpfer der Weg, endlich Bedeutung zu erlangen, ihrem Leben einen Sinn zu geben, sich in der Welt bemerkbar zu machen. Auf diese Weise, zeigt Farhad Khosrokhavar, imagnieren sie einen sozialen Aufstieg, den ihnen die alteingesessene, aber auch die eingewanderte Mittelschicht verweigert. Bei allen Unterschieden sind sie damit den Anhängern des Front National ähnlich, die sich ebenso abgehängt und fremd fühlen.

      Revanchegelüste und Ressentiments spielen dabei eine enorme Rolle, und genau hier tritt die funktionale Rolle des religiösen Universums auf den Plan, das die weltumspannende islamische Umma verheißt. Mit einem Mal sind alle Unklarheiten und Unreinheiten des modernen Lebens und der eigenen Vergangenheit beseitigt, mit einem Mal bietet sich eine trennscharf strukturierte Welt, die Gut und Böse scheidet. Obwohl die Mudschahedin unsagbar Unrechtes vorhaben und ausführen, fühlen sie sich als Gerechte, die den Terror der anderen rächen, ob das arabische Diktatoren wie Assad sind oder die amerikanischen Invasoren im Irak.

      Khosrokhavar hat gut daran getan, diese aktuelle Radikalisierungstendenz historisch einzuordnen. Da sind in der Geschichte der islamischen Welt die Assassinen, eine religiöse Sekte, die zwischen dem Ende des 11. Jahrhunderts und der Mitte des 13. Jahrhunderts in Persien und in Syrien Mordattentate auf politische Gegner verübte. Sie wurden „Opferbereite“ genannt, weil sie bei diesen Aktionen oft den Tod fanden. Der Autor streift die anarchistischen Propa­gandisten der Tat im 19. und 20. Jahrhundert und analysiert dann eine delinquente Subkultur in den reichen Ländern (Westeuropa, USA, Japan), die in den 1960er und 1970er Jahren auf (weniger depravierte und Abenteuer suchende) Jugendliche Eindruck machte. Damals war ein Auslöser der opferreiche Krieg in Südostasien gegen Befreiungsbewegungen, deren Bekämpfung entschiedene Gegengewalt gerechtfertigt erscheinen ließ. Damit sollen ungleiche Phänomene nicht gleichgesetzt werden, aber es soll unterstrichen werden, dass Radikalisierung und ihre Begleiterscheinungen (Gehirnwäsche, Paranoia) nicht auf religiöse Fanatiker beschränkt bleiben. Allerdings können sie aus säkularen Zielsetzungen solche machen, die mit quasi-religiöser Inbrunst und Einäugigkeit verfolgt werden.

      Wer dafür anfällige Personenkreise von Radikalisierung abhalten und Kämpfer, die dem Wahnsinn auf den Schlachtfelder Syriens und des Irak entronnen sind oder hier zu Lande zu Attentaten fähig wären, deradikalisieren möchte, sollte Farhad Khosrokhavars Studie aufmerksam lesen. Bei aller Einzigartigkeit der Einzelfälle produziert die Soziologie ein Inventar von Radikalisierungsvarianten, die man ergründen kann. Khosrokhavar untersucht reale und virtuelle Entstehungsorte, Finanzierungsquellen und die Rolle des Salafismus. Dabei zeigt sich, dass zwischen dem französischen und deutschen Milieu der Radikalisierung neben vielen Gemeinsamkeiten auch bedeutsame Unterschiede bestehen, deren Herausarbeitung diese instruktive und gut lesbare Studie ermöglicht. Da ist zum einen der, wie Khosrokhavar darlegt, zunehmend kontraproduktive Laizismus der französischen Republik im Vergleich zu einem in Deutschland praktizierten Multikulturalismus, zum anderen die Prävalenz eines kolonialen Antagonismus, der weit ins 19. Jahrhundert zurückdatiert und im Algerienkrieg eine immer noch nicht aufgearbeitete Hypothek hat.

      Deutschland, Frankreich

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